Methodenreport, Version 6

1 Ziele und Grundlagen des NVL-Programms

1.1 Begründung

Medizinische Leitlinien sind ein wesentliches Instrument zur Förderung von Qualität und Transparenz medizinischer Versorgung. Leitlinien haben dabei konkret die Aufgabe,

  • wissenschaftliche Evidenz und Praxiserfahrung zu speziellen Versorgungsproblemen explizit darzulegen;
  • die methodische und klinische Bewertung der Evidenz darzustellen;
  • gegensätzliche Standpunkte zu klären;
  • unter Abwägung von Nutzen und Schaden, der Größe des zu erwartenden Effektes, des Vertrauen in die identifizierte Evidenz, der Präferenzen der Betroffenen und versorgungspraktischer Aspekte das derzeitige Vorgehen der Wahl zu definieren;
  • unter Berücksichtigung der vorhandenen Ressourcen gute klinische Praxis zu fördern und die Öffentlichkeit darüber zu informieren.

Sie zielen darauf, Entscheidungen in der medizinischen Versorgung auf eine rationalere Basis zu stellen und die Stellung der Betroffenen als Partner*innen im Entscheidungsprozess zu stärken. Leitlinien sind bereits jetzt aus dem klinischen Alltag nicht mehr wegzudenken und werden auch in Zukunft das diagnostische und/oder therapeutische Handeln zunehmend beeinflussen.

Vor diesem Hintergrund entwickeln die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und die Selbstverwaltungskörperschaften der Ärzteschaft (BÄK und KBV) seit vielen Jahren Leitlinien. Diese Leitlinien sind in der Regel auf spezifische Krankheitssituationen und definierte Teilbereiche des Versorgungsgeschehens ausgerichtet und beschreiben nur selten organisatorische Rahmenbedingungen der Versorgung von Patient*innen. Zur Förderung der Vernetzung medizinischer Leistungen in übergreifenden Versorgungsformen (z. B. Verträge zur Integrierten Versorgung (IV), Disease Management Programme (DMP)) werden Leitlinien benötigt, die diese Aspekte ergänzen und Lösungen für Schnittstellen zwischen verschiedenen Sektoren, aber auch zwischen den verschiedenen beteiligten Disziplinen und Gesundheitsberufen anbieten ("Versorgungsleitlinien").

Aus diesem Grund haben BÄK, KBV und AWMF im Jahr 2003 auf Initiative der BÄK die gemeinsame Trägerschaft über das "Programm für Nationale VersorgungsLeitlinien" (NVL-Programm) sowie dessen gemeinsame Finanzierung vertraglich vereinbart. Die Träger haben das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin mit der Koordination, Redaktion und Pflege des NVL-Programms betraut 1616. Die methodische Begleitung erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Institut für medizinisches Wissensmanagement der AWMF (AWMF-IMWi) und folgt dem AWMF-Regelwerk 33979.

1.2 Ziele

Das NVL-Programm zielt auf die Entwicklung und Implementierung versorgungsbereichsübergreifender Leitlinien zu ausgesuchten Erkrankungen hoher Prävalenz unter Berücksichtigung der Methoden der Evidenzbasierten Medizin (EbM). Insbesondere sind NVL inhaltliche Grundlage für die Ausgestaltung von Konzepten der strukturierten und Integrierten Versorgung 33978.

Ziele des NVL-Programms sind insbesondere:

  • Empfehlungen zu versorgungsbereichsübergreifenden Vorgehensweisen für ausgewählte hochprävalente Erkrankungen entsprechend dem besten Stand der medizinischen Erkenntnisse unter Berücksichtigung der Kriterien der Evidenzbasierten Medizin zu erarbeiten und formal zu konsentieren;
  • Empfehlungen hinsichtlich der Abstimmung und Koordination der an der Versorgung beteiligten Fachdisziplinen und weiterer Fachberufe im Gesundheitswesen in den verschiedenen Versorgungsbereichen zu geben;
  • durch Einbeziehung aller an der Versorgung beteiligten Disziplinen, Organisationen und Patient*innen eine effektive Verbreitung und Umsetzung der Empfehlungen zu ermöglichen;
  • Berücksichtigung von NVL-Empfehlungen in der ärztlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung und in Qualitätsmanagementsystemen sowie bei Verträgen zur Integrierten Versorgung oder zu strukturierten Behandlungsprogrammen;
  • Unterstützung der gemeinsamen Entscheidungsfindung zwischen Ärzt*innen, Angehörigen von weiteren Gesundheitsberufen sowie Patient*innen durch qualitativ hochwertige Patienteninformationen und Entscheidungshilfen.

Auf diesem Weg sollen die Qualität der Versorgung verbessert und die Stellung der Patient*innen gestärkt werden. Zudem wird von der Berücksichtigung der Empfehlungen eine Effizienzsteigerung im Gesundheitswesen erwartet.

1.3 Definitionen

Bei einer NVL handelt es sich um eine systematisch entwickelte Entscheidungshilfe über die angemessene ärztliche Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen im Rahmen der strukturierten medizinischen Versorgung und damit um eine Orientierungshilfe im Sinne von "Handlungs- und Entscheidungsvorschlägen”, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss 33979, 775.

Die Entscheidung darüber, ob einer bestimmten Empfehlung gefolgt werden soll, muss individuell unter Berücksichtigung der bei der/dem jeweiligen Betroffenen vorliegenden Gegebenheiten und Präferenzen sowie der verfügbaren Ressourcen getroffen werden 1357.

Eine NVL wird erst dann wirksam, wenn ihre Empfehlungen bei der Versorgung von Patient*innen Berücksichtigung finden. Die Anwendbarkeit einer Leitlinie oder einzelner Leitlinienempfehlungen muss in der individuellen Situation geprüft werden nach den Prinzipien der Indikationsstellung, Beratung, Präferenzermittlung und partizipativen Entscheidungsfindung 33979.

Ebenso wie bei jeder anderen medizinischen Leitlinie handelt es sich bei einer NVL explizit nicht um eine Richtlinie im Sinne einer Regelung des Handelns oder Unterlassens, die von einer rechtlich legitimierten Institution konsentiert, schriftlich fixiert und veröffentlicht wurde, für den Rechtsraum dieser Institution verbindlich ist und deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich zieht 775.

1.4 Adressat*innen und Anwendungsbereich

Die Empfehlungen der NVL richten sich

  • an alle Ärztinnen und Ärzte, die in den von der NVL angesprochenen Versorgungsbereichen tätig sind;
  • an die Angehörigen weiterer Gesundheitsberufe, die in den von einer NVL angesprochenen Versorgungsbereichen tätig sind (z. B. Pflegekräfte, Ergotherapeut*innen, Physiotherapeut*innen, Apotheker*innen);
  • an betroffene Patient*innen und ihr persönliches Umfeld (z. B. Eltern, Partner*innen, Kinder) unter Nutzung von speziellen Patientenleitlinien und Patienteninformationen.

Die NVL richten sich zur Information weiterhin

  • an die Vertragsverantwortlichen von "Strukturierten Behandlungsprogrammen" und "Integrierten Versorgungsverträgen";
  • an weitere medizinische wissenschaftliche Fachgesellschaften/Organisationen und andere Herausgebende von Leitlinien;
  • an die Kostenträger im Gesundheitssystem;
  • an die Öffentlichkeit zur Information über gute medizinische Vorgehensweise.
Methodenreport, Version 6.0, 2024

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