NVL Unipolare Depression (2022)

3 Therapieplanung

3.1  Behandlungsphasen und Behandlungsoptionen

Die Behandlung einer Depression, insbesondere wenn es sich um eine rezidivierende Depression handelt, lässt sich grundsätzlich in drei Phasen gliedern: die Akuttherapie, die Erhaltungstherapie und die Rezidivprophylaxe (Abbildung 6). Dieses Modell wurde ursprünglich im Zusammenhang mit der medikamentösen Therapie entwickelt 5518 und kann nur bedingt auf die Psychotherapie übertragen werden. Daher wird bezüglich der Psychotherapie in dieser Leitlinie anstelle von "Erhaltungstherapie" der passendere Begriff der "Weiterführung" gewählt.

Abbildung - weißAbbildung 6: Modell der Erkrankungs- und Behandlungsphasen

 Abbildung 6 - Modell der Erkrankungs- und Behandlungsphasen

 Informationen Erläuterung: Behandlungsphasen

Die Behandlung in der Akutphase soll den Leidensdruck der Patient*innen lindern, die Symptome der gegenwärtigen depressiven Episode behandeln und die möglichst weitgehende Remission erreichen sowie die berufliche und psychosoziale Leistungsfähigkeit und Teilhabe wiederherstellen. Zudem ist es in der Akuttherapie ein wesentliches Ziel, die mit Depressionen verbundene Mortalität zu beherrschen. Sie wird fortgeführt, bis die Depressionssymptome nicht mehr vorhanden oder zumindest stark zurückgegangen sind, wobei die Zeiträume stark variieren. Bei der medikamentösen Therapie umfasst die Akutphase die Aufdosierung und ggf. Anpassung der Medikation und ihre Fortführung bis zur weitgehenden Remission. In der Psychotherapie liegt in der Akutphase der Schwerpunkt auf der Linderung der Symptomatik der Patient*innen durch Entlastung, Strukturierung, Aktivierung und Empowerment.

Die Beendigung der Behandlung direkt nach einer akuten depressiven Episode ist mit einer hohen Rückfallgefahr verbunden, selbst wenn eine vollständige Symptomremission erreicht wurde. Daher soll eine Weiterführung (pharmakologisch "Erhaltungstherapie", psychotherapeutisch "Weiterführung") den oft noch instabilen Zustand der Patient*innen stabilisieren und das Rückfallrisiko reduzieren. In der medikamentösen Therapie wird zur Verhinderung eines frühen Rückfalls nach Abklingen der Symptomatik die Behandlung mit der gleichen Dosis über 4 bis 9 Monate fortgeführt. Hiernach wird das Medikament ausgeschlichen, sofern keine Rezidivprophylaxe (siehe unten) indiziert ist. In der Psychotherapie umfasst die Weiterführung die intensive Bearbeitung und Beeinflussung z. B. ungünstiger, "depressiogener" Verhaltensmuster und innerer Haltungen sowie untergründiger und chronifizierter individueller Ängste und Selbstwertthemen sowie vor allem gegen Ende auch Maßnahmen der Rezidivprophylaxe und der Vorbereitung des Behandlungsendes. Die Dauer variiert und orientiert sich dabei an Symptomschwere und Chronifizierungsgrad sowie am Ausmaß der psychosozialen Einschränkungen. In Deutschland ist der maximale Behandlungsumfang verfahrensspezifisch in der Psychotherapie-Richtlinie definiert.

Nach der Erhaltungs-/Weiterführungsphase ist für die meisten Patient*innen die Therapie beendet. Eine fortgesetzte Behandlung kann aber das Auftreten einer erneuten Krankheitsepisode langfristig verhindern. Diese Rezidivprophylaxe ist besonders bei hohem Rezidiv- bzw. Chronifizierungsrisiko indiziert und kann bei Bedarf mehrere Jahre dauern. Eine medikamentöse Behandlung erfolgt in dieser Therapiephase mit der gleichen Dosis, die sich in der Akutbehandlung als effektiv erwiesen hat. In der Psychotherapie kann nach dem Ende einer Behandlung gemäß den Richtlinien eine zusätzliche Rezidivprophylaxe erfolgen. Sie umfasst die gleichen schon in der Akut- bzw. Erhaltungstherapie angewandten Elemente, z. T. ergänzt um weitere spezielle Interventionen. Insbesondere sollen Bewältigungsfähigkeiten für kritische Lebensereignisse gestärkt werden. In der Praxis verläuft die Behandlung nicht immer linear, sondern komplexer bzw. zyklisch. Krisen (Rückfälle, Rezidive) können eine Intensivierung oder Modifizierung der Therapie erforderlich.

Für Empfehlungen zur praktischen Durchführung der einzelnen Behandlungsphasen siehe Kapitel 4 Therapieoptionen und Therapieprinzipien; für Empfehlungen zur Indikation der verschiedenen Interventionen siehe Kapitel 5 Behandlung bei akuter depressiver Episode bis Kapitel 12 Management bei Suizidalität und anderen Notfallsituationen.

Behandlungsoptionen

In Abhängigkeit vom Schweregrad und von der Erkrankungsphase kommen zur Behandlung depressiver Störung verschiedene Optionen in Betracht, die einzeln oder in Kombination eingesetzt werden können:

  • Hilfe zur Selbsthilfe und Stärkung von Selbstmanagement-Fähigkeiten durch Psychoedukation, Bibliotherapie, niedrigschwellige gesprächsbasierte Interventionen; jeweils ggf. in technologiegestützter Form;
  • Psychotherapie;
  • medikamentöse Therapie;
  • neurostimulatorische Verfahren (Elektrokonvulsionstherapie, repetitive transkranielle Magnetstimulation u. a)
  • psychosoziale Interventionen (Ergo- oder Soziotherapie)
  • unterstützende Maßnahmen (Sport- und Bewegungstherapie, Lichttherapie, Schlafentzugstherapie)

Die Charakteristika der verschiedenen Interventionen sind im Kapitel 4 Therapieoptionen und Therapieprinzipien beschrieben. Für Empfehlungen zur Wahl der Therapie in Abhängigkeit vom Schweregrad und der Erkrankungsphase siehe Kapitel 5 Behandlung bei akuter depressiver Episode bis Kapitel 12 Management bei Suizidalität und anderen Notfallsituationen. Versorgungsstrukturen und Leistungserbringer sind Thema des Kapitels 14 Versorgungskoordination.

3.2  Behandlungsziele und klinische Endpunkte

Unter Behandlungszielen werden einerseits klinische, symptomorientierte Ziele, andererseits personenzentrierte übergeordnete Ziele verstanden.

3.2.1 Allgemeine Behandlungsziele und messbare Outcomes

In Therapiestudien zu depressiven Störungen sind zumeist Verbesserungen auf Depressivitätsskalen das entscheidende Remissionskriterium. Für die Patient*innen relevante Endpunkte sind z. B. psychosoziale Funktionsfähigkeit, Bewältigung von Alltagsstress, interpersonelle Beziehungen; Bewältigung der Erkrankung trotz fortgestehender Symptomatik.

 Tabelle Tabelle 19: Behandlungsziele und messbare Endpunkte bei depressiven Störungen

Tabelle 19: Behandlungsziele und messbare Endpunkte bei depressiven Störungen (unter Berücksichtigung von 31878)

Ziele der Behandlung

messbare Endpunkte/Outcomes

Mortalität und Morbidität

Klinische Dimension:

  • Symptome der depressiven Störung vermindern und letztlich eine Remission erreichen;
  • Mortalität verringern, insbesondere Suizide verhindern;
  • Wahrscheinlichkeit für einen direkten Rückfall oder eine spätere Wiedererkrankung reduzieren;
  • wenn keine Besserung erreicht werden kann, dann Verschlimmerung verhüten
  • Suizidrate und Suizidversuchsrate
  • Gesamtmortalität
  • Symptomveränderung (Tabelle 20, Tabelle 21), Zeit bis zum Ansprechen
  • Remission, Zeit bis zur Remission
  • Zeit bis zum Rückfall/Rezidiv (Tabelle 20)

Lebensqualität, Psychosoziale Aspekte, Aktivität und Teilhabe

Existenzielle Dimension:

  • seelisches Gleichgewicht, allgemeine bejahende Lebenseinstellung (Lebenswillen, Hoffnung, Vitalität, Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeit); spirituelles Wohlbefinden
  • realistische Selbsteinschätzung erreichen
  • Nutzung von Bewältigungsmechanismen (Coping); Empowerment

Funktionale Dimension:

  • Bewältigung von häuslichen und alltäglichen Aufgaben sowie von Stress und Verpflichtungen; selbstständige und eigenverantwortliche Gestaltung des Alltags
  • berufliche und psychosoziale Leistungsfähigkeit und Teilhabe wiederherstellen;

Soziale Dimension:

  • psychosoziale Leistungsfähigkeit und Teilhabe (z. B. interpersonelle Interaktion und Kommunikation, Beziehungsqualität, Beteiligung am sozialen Leben)

Körperliche Dimension:

  • eigenverantwortliche Versorgung und Pflege des Körpers; Führen eines gesundheitsbezogenen Lebensstils
  • selbstberichtetes Befinden (Lebensqualität-Scores)
  • Funktionsfähigkeit (Funktionsscores)
  • Aktivität und Teilhabe (ICF-Items), aktive Stunden (hours active)
  • arbeitsbezogene Outcomes (z. B. Krankschreibung; AU-Tage; Tage in Arbeit, Rückkehr in Arbeit, Frühberentung)
  • Gesundheitskompetenz

Die für Symptomveränderungen genutzte Terminologie unterscheidet sich nach dem Zeitpunkt ihres Auftretens (Tabelle 20; Abbildung 6).

 Tabelle Tabelle 20: Definition von Symptomveränderungen

Tabelle 20: Definition von Symptomveränderungen

Ansprechen (response)

Reduktion der depressiven Symptomatik in Symptom-Skalen um ≥ 50% des Ausgangswertes zu Behandlungsbeginn

Remission

vollständige Wiederherstellung des ursprünglichen Funktionszustandes oder ein weitgehend symptomfreier Zustand nach der Akuttherapie

Rückfall (relapse)

Wiederauftreten einer depressiven Episode innerhalb von 6 Monaten

vollständige Genesung (recovery)

symptomfreie Zeit für ca. 6 Monate nach Remission

Rezidiv (recurrence)

Wiederauftreten einer depressiven Episode nach mehr als 6 Monaten

Die Schwellenwerte für die Diagnose einer Depression bzw. die Definition einer vollständigen Remission gelten für die verschiedenen Symptomskalen als validiert (siehe Anhang 1). Hingegen ist die Bewertung des Therapieeffekts weniger eindeutig (siehe Kapitel IV Methodenkritische Aspekte). So ist für die meisten Symptomskalen unklar, welche absolute Punktdifferenz skalenspezifisch eine klinisch relevante Veränderung markiert. Eine systematische Recherche zur minimalen klinisch relevanten Differenz (MCID) erbrachte nur für wenige Testverfahren ankerbasierte Referenzwerte, die zudem nur für bestimmte Subpopulationen bestimmt wurden (Anhang 2). In der Praxis erfolgt die Einstufung des Therapieerfolgs meist in Anlehnung an allgemeine statistische Maße für Effektgrößen in Form standardisierter Mittelwert-Differenzen (Tabelle 21).

 Tabelle Tabelle 21: Einstufung des Therapieerfolgs bei Symptomskalen

Tabelle 21: Einstufung des Therapieerfolgs bei Symptomskalen

Ansprechrate1

SMD2 Symptomreduktion (Cohens‘ d, Hedges g)

Effektstärke

< 20%

< 0,2

klinisch irrelevanter Effekt

20–50%

0,2–0,4

Teilansprechen, geringer Effekt

> 50%

0,5–0,7

Ansprechen (Teilremission), mittlerer Effekt

 

≥ 0,8

starker Effekt

100%

 

vollständige Remission3

1 Symptomreduktion im Vergleich zum Ausgangswert; 2SMD standardisierte Mittelwert-Differenz; 3Symptomreduktion um 100% bezogen auf das Unterschreiten des Cut-off-Werts für eine Depression des jeweiligen Testverfahrens

Für die Evidenzbewertung in dieser Leitlinie wurden die Endpunkte von Therapiestudien priorisiert. Als kritisch für die Entscheidungsfindung bewertete die Leitliniengruppe folgende Endpunkte: Suizidrate, Gesamtmortalität, Remissionsrate, depressive Symptomatik, selbstberichtetes Befinden, Aktivität und Teilhabe (Details siehe Leitlinienreport 32140). Ebenfalls hohe Wertigkeit für die Entscheidungsfindung haben unerwünschte Wirkungen der verschiedenen Therapieformen (siehe Kapitel 4.4.3 Auswahl des Antidepressivums und 4.5.4 Nebenwirkungen in der Psychotherapie).

3.2.2 Individuelle Therapieziele

Empfehlung

Empfehlungsgrad

3-1 | neu 2022

Patient*innen und Behandelnde sollen gemeinsam individuelle Therapieziele vereinbaren und priorisieren. Dabei sollen person- und umweltbezogene Kontextfaktoren sowie die Auswirkungen auf Aktivität und Teilhabe in allen relevanten Lebensbereichen berücksichtigt werden.

Starke Empfehlung

3-2 | neu 2022

Die Behandelnden sollten den Patient*innen anbieten, die vereinbarten individuellen Therapieziele und Gründe für ihr Nicht-Erreichen ggf. gemeinsam zu dokumentieren, so dass sie in Absprache mit den Patient*innen bei Bedarf auch anderen beteiligten Berufsgruppen zur Verfügung gestellt werden können.

Abgeschwächte Empfehlung

3-3 | neu 2022

Die mit den Patient*innen vereinbarten individuellen Therapieziele sollen regelmäßig und je nach Bedarf evaluiert und ggf. angepasst werden.

Starke Empfehlung

RationaleRationale

Den Nutzen der individuellen Zielvereinbarung sieht die Leitliniengruppe in der plausiblen Chance, durch eine an den individuellen Präferenzen und Bedürfnissen ausgerichtete Therapie die Zufriedenheit mit der Behandlung und die Adhärenz zu erhöhen, das Vertrauensverhältnis zwischen Behandelnden und Patient*innen zu verbessern, die Vereinbarkeit der Therapie mit dem Alltag zu ermöglichen und die Belastung durch die Therapie ("treatment burden") für Patient*innen möglichst gering zu halten. Daneben spricht auch das ethische Prinzip der Patient*innenautonomie für dieses Vorgehen.

Kontextfaktoren können erheblichen Einfluss auf die Entstehung und den Verlauf von Erkrankungen haben, aber auch das Erreichen von vereinbarten Therapiezielen fördern oder erschweren. Daher hält die Leitliniengruppe deren Erfassung und Berücksichtigung für grundlegend bei der Therapieplanung und -steuerung und spricht konsensbasiert eine starke Empfehlung aus.

Die Dokumentation der vereinbarten Therapieziele ermöglicht es, diese bei Bedarf interprofessionell zu kommunizieren. Auch für die Patient*innen ist die Verschriftlichung der gemeinsam vereinbarten Therapieziele wichtig, insbesondere für die Nachvollziehbarkeit, wenn die Ziele sich im Lauf der Behandlung ändern. Die Leitliniengruppe spricht eine abgeschwächte Empfehlung aus, weil dieses Vorgehen nicht generell etabliert und in der Praxis auch nicht immer durchführbar ist.

Indem Therapieziele regelmäßig überprüft werden, lässt sich die Therapie an wechselnde Bedürfnisse und Kontextfaktoren anpassen. Da die Leitliniengruppe bei dieser Empfehlung großes Potenzial für Nutzen und keine Hinweise auf Schäden sieht, spricht sie eine starke Empfehlung aus.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die konsensbasierte Empfehlung beruht auf den ethischen Prinzipien der Autonomie und Fürsorge sowie auf den im Patientenrechtegesetz festgelegten Recht auf Selbstbestimmung. Auf eine Recherche nach Evidenz wurde verzichtet, da Vergleichsstudien zu dieser Fragestellung aus ethischen Gründen nicht zu erwarten sind.

 Überlegungen Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Die Wahl einer individuell angemessenen Behandlung setzt voraus, dass Patient*innen und Behandelnde zunächst gemeinsam realistische Ziele festlegen, die bestmöglich der Lebenssituation, den Präferenzen und den Bedürfnissen der Patient*innen entsprechen. Aus der Erfahrung der Leitliniengruppe werden Therapieziele jedoch nicht immer individuell an die Situation der Patient*innen angepasst, das heißt die jeweiligen person- und umweltbezogenen Kontextfaktoren werden nicht ausreichend berücksichtigt (siehe auch unten: Bio-psycho-soziales Modell der ICF).

Die Leitliniengruppe schlägt vor, individuelle Therapieziele gemäß Elwyn et al. 29842 in die Kategorien übergeordnete Lebensziele, funktionsbezogene Ziele und krankheitsbezogene Ziele einzuteilen. Dabei bietet sich die Anwendung des SMART-Prinzips an: Die Ziele sollten spezifisch, messbar, akzeptiert, realistisch und terminierbar sein. Bei mehreren Zielen kann eine Priorisierung, bei konkurrierenden Zielen auch eine Abwägung notwendig werden. Beispiele individueller Therapieziele im Kontext depressiver Erkrankungen und Fragen für ihre Exploration sind in Tabelle 22 zusammengestellt.

Tabelle 22: Beispiele individueller Therapieziele für Patient*innen mit depressiven Störungen

Ziel-Kategorien

beispielhaft ausgewählte Ziele

mögliche ermutigende Fragen

übergeordnete Lebensziele

  • Lebensfreude und Lebensqualität wiederherstellen
  • Freizeitaktivitäten und Sozialkontakte wiederaufnehmen oder verstärken

Wenn Sie an Ihr Leben und an Ihre Zukunft denken: Was ist Ihnen besonders wichtig?

funktionsbezogene Ziele

  • wieder arbeiten gehen können
  • körperliche Fitness und Gesundheit erhöhen, z. B. durch Sport und Bewegung
  • Belastung und Nebenwirkungen durch die Therapie reduzieren, z. B. Sedierung, sexuelle Funktionsstörungen

Welche Dinge können Sie wegen Ihrer Depressionen bzw. der Behandlung nicht mehr machen? Was möchten Sie gern wieder tun können?

krankheitsbezogene Ziele

  • Suizidgedanken reduzieren
  • besser schlafen
  • sich besser konzentrieren können

Welche Beschwerden belasten Sie am meisten? Was sollte durch die Behandlung verbessert werden?

Die Dokumentation der Therapieziele soll sicherstellen, dass diese nicht nur angesprochen wurden, sondern dass die Patient*innen und weitere betreuende Berufsgruppen sie nachvollziehen, überprüfen und sich im weiteren Verlauf daran orientieren können. Dies umfasst jedoch nicht die Inhalte aus therapeutischen Gesprächen, und eine Weitergabe der Information setzt explizit das Einverständnis der Patient*innen voraus.

Wer die Therapieziele in der Versorgung von Patient*innen mit Depressionen bespricht und dokumentiert, ggf. auch gemeinsam (interdisziplinär), kann individuell verschieden sein (z. B. Hausärzt*innen, Psychiater*innen, Psychotherapeut*innen). Allerdings sind am Anfang einer Therapie die persönlichen Ziele mitunter nur schwer fassbar und deren Erörterung kann auf die Patient*innen auch verstörend wirken, insbesondere wenn eine psychodynamische Therapie begonnen wird. In diesem Fall kann der Zeitpunkt der Besprechung der Ziele wie auch die Art der Dokumentation individuell gehandhabt werden.

Therapieziele und deren Priorisierung können sich im Verlauf der Erkrankung ändern, etwa weil sich die Lebensumstände (z. B. Arbeitsplatzverlust, Immobilität) oder der Gesundheitszustand verändert haben oder Konsequenzen der Therapie (z. B. Nebenwirkungen) deutlich werden. Daher erscheint die regelmäßige Überprüfung der Ziele wichtig, um Therapieanpassungen vornehmen zu können.

 Informationen Weiterführende Informationen: Das bio-psycho-soziale Modell der ICF

Das bio-psycho-soziale Modell der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) verdeutlicht unter anderem die komplexen Wechselwirkungen zwischen den Kontextfaktoren und der Teilhabe in unterschiedlichen Lebensbereichen und ermöglicht so ein umfassendes Verständnis des Gesundheitsproblems (siehe Abbildung 7). Zur Erfassung der Kontextfaktoren siehe Tabelle 15 und Tabelle 16 im Kapitel 2.6 Erfassung von psychosozialen Aspekten, Aktivität und Teilhabe.

 Algorithmus Abbildung 7: Einordnung von Ressourcen und Defiziten in das bio-psycho-soziale Modell der ICF am Fallbeispiel depressiver Störungen

Abbildung 7: Einordnung von Ressourcen und Defiziten in das bio-psycho-soziale Modell der ICF am Fallbeispiel depressiver Störungen

Abbildung 7 - Einordnung von Ressourcen und Defiziten in das bio-psycho-soziale Modell der ICF am Fall-beispiel depressiver Störungen 

3.3  Aufklärung und Information der Patient*innen

Empfehlung

Empfehlungsgrad

3-4 | modifiziert 2022

Bei der Aufklärung und Information über Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten der unipolaren Depression sollen die unterschiedlichen Optionen mit ihren Vor- und Nachteilen umfassend und in verständlicher Form dargestellt werden.

Starke Empfehlung

RationaleRationale

Eine verständliche Kommunikation hilft Patient*innen, Nutzen und Risiken verschiedener Therapieoptionen besser einzuschätzen und informierte Entscheidungen treffen zu können. Dies ist im Sinne der Patient*innenautonomie geboten, es sei denn, die Patient*innen machen ausdrücklich von ihrem Recht auf Nichtwissen Gebrauch. Aus diesem Grund und da die Leitliniengruppe hier auf Basis der klinischen Erfahrung ein Versorgungsproblem vermutet, spricht sie eine starke Empfehlung aus.

Bei psychischen Erkrankungen sind die Grenzen zwischen Aufklärung und Information, Psychoedukation und Therapie fließend. Zu den dafür relevanten Themen speziell bei depressiven Störungen siehe Kapitel 4.1 Psychoedukation und Schulungen mit Tabelle 26.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis und Versorgungsproblem

Die konsensbasierte Empfehlung beschreibt gute klinische Praxis und beruht auf ethischen Überlegungen sowie auf einem konsentierten, anerkannten Standard für die Vermittlung von evidenzbasierten und verlässlichen Gesundheitsinformationen 24757 sowie dem Einbezug von Patient*innen in die Behandlung. Eine professionell durchgeführte Aufklärung entspricht zudem den Vorgaben des Patientenrechtegesetzes (§§ 630a BGB).

 Überlegungen Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Die Aufklärung bei Patient*innen mit Depressionen kann schwierig sein, da depressiv negativistisches Denken und eine depressive Denkhemmung einem solchen Bemühen zuwiderlaufen. Wichtig ist dann, den Patient*innen zu vermitteln, dass es sich bei einer Depression um eine heterogene Erkrankung handelt, deren zentrales Kennzeichen das Gefühl darstellt, sich in einem unveränderlichen Zustand zu befinden (Verlust der Zeitperspektive). Ziel der Aufklärung und Information der Patient*innen ist es, realistische Hoffnung zu vermitteln und die Patient*innen zu entlasten.

Die angemessene Kommunikation von Nutzen und Schaden trägt zu einer realistischen Abschätzung der möglichen Optionen und zur Entscheidungszufriedenheit bei. Deshalb hält die Leitliniengruppe die verständliche Risikokommunikation zwischen Behandelnden und Patient*innen für eine zentrale Voraussetzung bei der Abwägung von Therapiezielen und Behandlungsoptionen. Wann immer sinnvoll, möglich und gewünscht, ist es hilfreich, auch An- und Zugehörige mit einzubeziehen (siehe Kapitel 3.6 Einbindung von Angehörigen).

 Informationen Weiterführende Informationen: Kommunikation von Risiken

Allgemeine Grundsätze zur Kommunikation von Risiken sind nach dem Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) 24757:

  • Die in Studien gefundenen Ergebnisse erlauben keine sichere Vorhersage über das Eintreten eines Ereignisses (Behandlungserfolg, Nebenwirkung etc.) für einzelne Patient*innen.
  • Für die individuelle Entscheidung ist vor der Vermittlung von Risiken zunächst eine Bewertung der Gültigkeit (Validität) und Relevanz der entsprechenden Studienergebnisse nötig.

Anforderungen an eine gute Risikokommunikation mit Beispielen aus der Therapie depressiver Störungen sind in Tabelle 23 dargestellt.

Zur Risikokommunikation können z. B. schriftliche, evidenzbasierte Informationen genutzt werden. Sie können das ärztliche bzw. psychotherapeutische Gespräch unterstützen, indem sie Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten mit ihren Vor- und Nachteilen verständlich darstellen. Anforderungen an hochwertige evidenzbasierte Patient*innen-Informationen sind im Positionspapier "Gute Praxis Gesundheitsinformation" des DNEbM formuliert 24757. Entsprechend dieser Methodik werden zur NVL Unipolare Depression eine Patientenleitlinie sowie weitere Patientenmaterialien zu ausgewählten Themen entwickelt (siehe Patientenblätter). Weitere evidenzbasierte Patienteninformationen und Entscheidungshilfen im Zusammenhang mit depressiven Störungen bieten beispielsweise das IQWiG (www.gesundheitsinformation.de) und psychenet – Netz psychische Gesundheit (www.psychenet.de).

Die Kommunikation von Risiken kann auch negative Wirkungen (Nocebo-Effekte, Nicht-Adhärenz) haben. Dies gilt es bei der Abwägung von Art und Umfang der Aufklärung und Information individuell zu berücksichtigen. Nocebo-Effekte und Nicht-Adhärenz lassen sich reduzieren, wenn auf unnötige Wiederholungen verzichtet wird und wenn mögliche negative Effekte immer im Zusammenhang mit den positiven Effekten erläutert werden.

 Tabelle Tabelle 23: Risikokommunikation

Tabelle 23: Risikokommunikation (modifiziert nach: 24757)

Grundsätze der Kommunikation von Zahlen und Wahrscheinlichkeiten Beispiel in der Therapie depressiver Störungen

patient*innen-relevante Endpunkte

Vermittlung von Nutzen und Schaden anhand patientenrelevanter Endpunkte

z. B. Verringerung der depressiven Symptomatik (Remission, Response), Reduktion von Suizidalität, Häufigkeit sexueller Funktionsstörungen oder Sedierung, Auftreten von Absetzsymptomen

fairer Vergleich

Darstellung aller indizierten Handlungsoptionen

z. B. Monotherapie mit Antidepressiva vs. Psychotherapie, Vergleich von Antidepressiva-Klassen und verschiedenen Psychotherapie-Verfahren

absolute Risikomaße

Vermittlung in absoluten Ereignishäufigkeiten in den zu vergleichenden Gruppen, relative Effektstärken können durch den Vergleich absoluter Ereignisraten ausgedrückt werden.

z. B. Bei Therapie mit SSRI haben sich bei 53 von 100 Menschen die Symptome verbessert. Im Vergleich dazu haben sich bei etwa 40 von 100 Menschen, die nur ein Scheinmedikament (Placebo) erhielten, die Symptome verbessert. 32108

Relationen beachten

Vermittlung von Nutzen und Schaden mit denselben Bezugsgrößen

z. B. Etwa 33 von 100 Patient*innen, die eine Verhaltenstherapie durchgeführt haben, hatten ca. 2 Monate nach Behandlungsbeginn keine depressiven Symptome mehr. Bei etwa 5 von 100 Patient*innen hatten sich die Depressionen verschlimmert. 31390

Nicht-Intervention als Option

Darstellung des Verzichts auf eine Maßnahme als Möglichkeit

bei Medikamenten: Placebo-Vergleich (inkl. Placebo-Effekt); bei Psychotherapie: Vergleich mit Wartelisten-Gruppe (inkl. Nocebo-Effekt) oder spezifische Psychotherapie vs. andere/unspezifische Psychotherapie

Verzicht auf nicht belastbare Daten

Verzicht auf Zahlenangaben, die nicht ausreichend sicher sind

Trigger für Unsicherheit:

  • unzureichende Evidenzqualität (fehlende RCT)
  • eingeschränkte Übertragbarkeit (unpassende Vergleiche oder Populationen)

Umgang mit Unsicherheit

Hinweis auf Unsicherheit und Evidenzlücken

  • unterschiedlich gute Evidenz für verschiedene Psychotherapie-Verfahren
  • wenige direkte Vergleiche zwischen medikamentöser Therapie und Psychotherapie
  • Effekte von Antidepressiva bei psychischer oder somatischer Komorbidität

Empfehlung

Empfehlungsgrad

3-5 | modifiziert 2022

Die Aufklärung vor Beginn der Behandlung depressiver Störungen sollte folgende Aspekte für die jeweiligen Interventionen umfassen:

  • Behandlungsablauf erläutern,
  • zu erwartenden Nutzen der Behandlung darstellen,
  • auf Wirklatenz und mögliches Nichtansprechen hinweisen;
  • Wirkmechanismen der Behandlung erklären;
  • Nebenwirkungen und ggf. zu ergreifende Maßnahmen erläutern;
  • Bedenken gegenüber Antidepressiva und/oder Psychotherapie besprechen.

Abgeschwächte Empfehlung

RationaleRationale

Die konsensbasierte Empfehlung konkretisiert die allgemeinen Empfehlungen zur Aufklärung und Information der Patient*innen für depressive Störungen. Die Leitliniengruppe spricht eine abgeschwächte Empfehlung aus, da nicht alle Patient*innen in aller Ausführlichkeit informiert sein möchten. Zudem gilt es individuell abzuwägen, ob eine zu ausführliche Information die Adhärenz eher hemmt als fördert.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die konsensbasierte Empfehlung beruht auf ethischen Überlegungen und spezifiziert das Patientenrechtegesetz §§ 630a BGB.

 Überlegungen Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Eine umfassende Aufklärung ist aus Sicht der Leitliniengruppe nicht nur für die gemeinsame Festlegung von Therapiezielen und -strategien notwendig, sondern auch Voraussetzung für eine adäquate Adhärenz der Patient*innen. Für weitere Erläuterungen siehe Kapitel 3.2.2 Individuelle Therapieziele sowie 3.5 Mitarbeit der Patient*innen.

 Patientenblatt Patientenleitlinie und weitere Patientenmaterialien

Integraler Bestandteil von NVL sind Patientenleitlinien, die die Empfehlungen der NVL wiedergeben und ausführliche Informationen zur Erkrankung und deren Behandlung bieten (www.patienten-information.de/patientenleitlinien/depression). Zudem stellt die NVL Unipolare Depression für spezifische Entscheidungs- oder Informationssituationen Materialien in allgemeinverständlicher Sprache bereit, um die Kommunikation zwischen Behandelnden und Patient*innen zu unterstützen (Themenliste siehe Patientenblätter).

3.4  Partizipative Entscheidungsfindung

Empfehlung

Empfehlungsgrad

3-6 | modifiziert 2022

Diagnostische, therapeutische und versorgungsbezogene Entscheidungen sollen entsprechend dem Konzept der partizipativen Entscheidungsfindung erfolgen.

Starke Empfehlung

RationaleRationale

Insbesondere begründet durch die ethischen Prinzipien der Autonomie und der Fürsorge spricht die Leitliniengruppe eine starke Empfehlung für die partizipative Entscheidungsfindung (PEF) aus. Der Empfehlungsgrad wird durch die identifizierte Evidenz bestätigt. Eine systematische Übersichtsarbeit zeigt mit hoher Evidenzqualität, dass der Einsatz von Entscheidungshilfen das Wissen verbessert. Die Konsultationszeit verlängert sich nicht signifikant. Es werden keine Hinweise auf Schäden beschrieben.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die konsensbasierte Empfehlung beruht auf den ethischen Prinzipien der Autonomie und Fürsorge sowie auf dem im Patientenrechtegesetz festgelegten Recht auf Selbstbestimmung. Aus der klinischen Erfahrung der Leitliniengruppe wird das PEF-Konzept nach wie vor noch zu selten umgesetzt. Drei in einer orientierenden Literaturrecherche identifizierte systematische Reviews bzw. die darin eingeschlossenen Studien wurden ergänzend betrachtet.

 Evidenzbeschreibung Evidenzbeschreibung

Eine orientierende Literaturrecherche 30765 zu den Effekten von PEF bei Patient*innen mit psychischen Erkrankungen fand RCT 16044, 30766, 30767, die darauf hindeuten, dass die Intervention die Patientenzufriedenheit und die Beteiligung am Entscheidungsprozess verbessern kann. Eine verlängerte Konsultationszeit durch PEF konnte in einer cluster-randomisierten kontrollierten Studie aus dem deutschen Versorgungskontext im hausärztlichen Bereich bei Patient*innen mit Depressionen nicht beobachtet werden 16044.

PEF ist in der klinischen Praxis oft mit dem Einsatz von Entscheidungshilfen verbunden. Ein Cochrane-Review 27873 deutet darauf hin, dass Entscheidungshilfen dazu beitragen, dass Patient*innen verstärkt Entscheidungen treffen, die mit ihren persönlichen Behandlungszielen übereinstimmen (niedrige Evidenzqualität aufgrund mangelnder Präzision, Konsistenz und Direktheit), besser informiert sind (hohe Evidenzqualität) und das Risiko realistischer einschätzen können (moderate Evidenzqualität) 27873. In Vorbereitung der Entwicklung evidenzbasierter Entscheidungshilfen für Patient*innen mit Depressionen und anderen psychischen Störungen fand ein explorativer systematischer Review Informations- oder Entscheidungsbedürfnisse insbesondere in den Kategorien "grundlegende Fakten", "Behandlung" und "Bewältigung" 30768.

 Informationen Weiterführende Informationen: Umsetzung von PEF bei depressiven Störungen

Die partizipative Entscheidungsfindung ist ein kontinuierlicher Prozess, in den neben den Patient*innen unterschiedliche betreuende Berufsgruppen und – wann immer möglich und gewünscht – An- und Zugehörige einzubeziehen sind. Zentral für das Gelingen ist, das Gespräch den Bedürfnissen und Kompetenzen der Patient*innen (z. B. kognitive Fähigkeiten, Sprachkenntnisse und Wissen) anzupassen, entsprechende Hilfestellungen und verständliche Informationen bzw. Entscheidungshilfen anzubieten sowie sicherzustellen, dass die Patient*innen die Informationen verstanden haben und für sich nutzen können.

Typische Entscheidungssituationen bei Patient*innen mit Depressionen – je nach den Ergebnissen von Symptomerfassung und psychosozialer Diagnostik sowie in Abhängigkeit von der Erkrankungsphase – sind:

  • Entscheidung über weiterführenden diagnostische Maßnahmen (z. B. bei V. a. organische affektive Störung, pharmakogenetische Tests)
  • Entscheidung über Therapiestrategie (z. B. Abwarten, Antidepressiva, Psychotherapie, weitere nicht-medikamentöse Therapien und Maßnahmen)
  • Entscheidung über Wahrnehmung von Beratungsangeboten (z. B. Sozialpsychiatrische Dienste, Kontakt- und Beratungsstellen, Krisendienste)
  • Entscheidung über Nutzung spezieller Versorgungsstrukturen (z. B. ambulant, teilstationär oder stationär; Peer Support, gemeindespsychiatrische Angebote)
  • Entscheidung über Arbeitsunfähigkeit oder Rückkehr zur Arbeit
  • Entscheidung über Beantragung unterstützender Leistungen (z. B. Hilfsmittel, Anerkennung einer Schwerbehinderung, Pflegegrad)

Für das Vorgehen nach dem PEF-Konzept ist die Bereitschaft der Patient*innen notwendig. Daher kann PEF in Situationen, in denen aufgrund des Schwere der Erkrankung die Einwilligungsfähigkeit eingeschränkt ist oder die Patient*innen sich davon überfordert fühlen (z. B. sehr schwere Depression, wahnhafte Depression, Krisen- oder Notfallsituationen), weniger sinnvoll sein. Stattdessen kann möglicherweise eine unterstützte Entscheidungsfindung (gemäß UN-Behindertenrechtskonvention) angestrebt werden.

 Informationen Weiterführende Informationen: Das Konzept der partizipativen Entscheidungsfindung

Das Konzept der partizipativen Entscheidungsfindung beschreibt einen "Interaktionsprozess mit dem Ziel, unter gleichberechtigter aktiver Beteiligung von Patient*innen und Behandelnden auf Basis geteilter Information zu einer gemeinsam verantworteten Übereinkunft zu kommen." 2663. Die einzelnen Handlungsschritte der gemeinsamen Entscheidungsfindung sind in Abbildung 8 dargestellt. Sie müssen nicht in einer festgelegten Reihenfolge erfolgen, sollten aber alle beachtet werden.

 Algorithmus Abbildung 8: Prozessschritte zur Umsetzung von partizipativer Entscheidungsfindung

Abbildung 8: Prozessschritte zur Umsetzung von partizipativer Entscheidungsfindung (mod. nach 29387, 29301)

Abbildung 8 - Prozessschritte zur Umsetzung von partizipativer Entscheidungsfindung 

 Patientenblatt Patientenmaterialien

Um relevante Entscheidungen bei unipolaren Depressionen und das Selbstmanagement der Patient*innen zu unterstützen, stellt die NVL Unipolare Depression für spezifische Entscheidungs- oder Informationssituationen Materialien in allgemeinverständlicher Sprache bereit, um die Kommunikation zwischen Behandelnden und Patient*innen zu unterstützen (Themenliste siehe unter Patientenblätter). Diese Materialien wie auch eine ausführliche Patientenleitlinie stellen einen integralen Bestandteil der NVL dar. Sie sind – teilweise auch in mehreren Sprachen – abrufbar unter www.leitlinien.de/depression. Weitere evidenzbasierte Patienteninformationen und Entscheidungshilfen im Zusammenhang mit depressiven Störungen bieten beispielsweise das IQWiG (www.gesundheitsinformation.de) und psychenet – Netz psychische Gesundheit (www.psychenet.de).

3.5  Mitarbeit der Patient*innen

 Hintergrund Stellenwert und Hintergrund

Unerlässlich für die Genesung und auch zur Vorbeugung einer Wiedererkrankung ist die Mitarbeit der Patient*innen. Ihre Sicherstellung vor und im Verlauf jeder Behandlung sollte gewährleistet sein. Die Grundlage dafür ist die Schaffung eines stabilen therapeutischen Bündnisses, in dem empathisch auf die Patient*innen eingegangen und Verständnis für die Beschwerden gezeigt wird. Hinderliche Aspekte, wie die Angst vor oder das Erleben von Nebenwirkungen, die Wirklatenz bei pharmakologischen und v. a. psychotherapeutischen Maßnahmen und depressionsspezifische Schwierigkeiten ("keine Energie zur Therapie", Resignation) können bei vielen Patient*innen zu Widerständen gegen die Behandlung führen, so dass Therapieabbrüche bei der Behandlung von Depressionen nicht selten sind. Nicht zu unterschätzen ist auch die Schwierigkeit vieler Patient*innen zu akzeptieren, dass zur Vermeidung von Rückfällen oder Wiedererkrankungen für eine gewisse Zeit die Fortführung der erfolgreichen Behandlungsmaßnahmen auch nach dem Abklingen der depressiven Symptomatik notwendig ist. All diesem kann in den therapeutischen Gesprächen durch aktives Ansprechen konstruktiv begegnet werden.

Empfehlung

Empfehlungsgrad

3-7 | neu 2022

Die Bedeutung von Adhärenz sowie mögliche förderliche und hinderliche Faktoren sollen vor der Therapieentscheidung sowie vor einer Änderung der Therapie besprochen werden.

Starke Empfehlung

RationaleRationale

Die Leitliniengruppe sieht Adhärenz – als Produkt des Beziehungsaufbaus und der partizipativen Entscheidungsfindung sowie als zentrales Versorgungsproblem – als Herausforderung bei der Behandlung unipolarer Depressionen. Sie hat die Förderung der Adhärenz zu vereinbarten Therapiezielen daher auch als Ziel der NVL formuliert und spricht konsensbasiert eine starke Empfehlung aus. Durch die strukturierte Analyse möglicher Einflussfaktoren (Tabelle 24, Tabelle 25) lassen sich Barrieren identifizieren. Sind sie behebbar, können sie zu einer Verbesserung der Adhärenz führen. Sind sie nicht behebbar, wird das individuelle Therapieziel angepasst. Dieses Vorgehen bietet die Chance, dass Patient*innen und Behandelnde transparenter und verbindlicher mit Therapievereinbarungen umgehen.

Besondere Bedeutung für die Adhärenz hat der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Patient*innen und Behandelnden. Dazu und zu anderen interventionsübergreifenden Wirk- und Einflussfaktoren bei depressiven Erkrankungen siehe auch Tabelle 33 und Tabelle 34.

 Tabelle Tabelle 24: Adhärenz-Barrieren auf Seite der Patient*innen und mögliche Lösungsansätze

Tabelle 24: Adhärenz-Barrieren auf Seite der Patient*innen und mögliche Lösungsansätze

mögliche Adhärenz-Barrieren

mögliche Lösungsansätze

Körperliche Funktion

kognitive Einschränkungen

Situation erfassen (ggf. Assessments durchführen), An- und Zugehörige einbeziehen und schulen, Therapieanpassung, ggf. Pflegedienst

Polymedikation bei Multimorbidität

Therapieziele priorisieren, kollegiale Absprache, Unterstützung durch Apotheker*in (Medikationsanalyse und Medikationsmanagement), Hilfsmittel

Schmerzen bei Steigerung der körperlichen Aktivität

Besserung der körperlichen Beschwerden (Technikschulung, Einlagen, unterstützende Produkte, Analgetika), Umsteigen auf andere Form der Bewegung (z. B. Schwimmen, Radfahren)

Soziale Kontextfaktoren

psychosoziale Belastungen im Umfeld

Unterstützungsangebote (z. B. psychosomatische Grundversorgung, Paarberatung, Mediation, Schuldnerberatung)

Sprache

Vermeidung medizinischer Fachsprache, Verwendung "leichter Sprache;

Bei anderer Erstsprache: Dolmetscher*in, Hilfe durch An- und Zugehörige, Patienteninformationen in Erstsprache.

verkehrsungünstige Wohnsituation

Aktivierung von Nachbarschaftshilfe, Unterstützung bei der Beantragung von Fahrtkostenübernahme durch die Krankenkasse, ggf. digitales Angebot

Akzeptanz der Erkrankung und der Behandlung im Umfeld

Aufklärung unter Einbeziehung der An- und Zugehörigen, Aushändigung von Informationsmaterial.

belastender Arbeitsplatz

Veränderung von Arbeitsbedingungen oder Arbeitsplatz, Veränderung der Arbeitszeit, andere Beschäftigung innerhalb oder außerhalb des Betriebes, Einbeziehung von betriebsärztlichem Dienst und betrieblichem Gesundheitsmanagement, Umschulung oder andere Fördermaßnahmen; evtl. Reha bei gefährdetem Arbeitsplatz

prekäre Situation

Information über die verfügbaren finanziellen und sozialen Unterstützungsmöglichkeiten (Sozialamt, Krankenkasse, Sozialverband VdK), Verringerung von Ausgaben (z. B. Miete), ggf. Schuldnerberatung.

Kontextfaktor medizinische Versorgung

mangelnde (zeitnahe) Verfügbarkeit

Ausstellen einer Dringlichkeitsbescheinigung, Verweis an Terminservicestellen der KVen; nach initialem direkten Kontakt digitale Angebote (z. B. Videosprechstunde, telefonischer Kontakt) möglich

Wartezeit auf Psychotherapie

nach Indikationsstellung für eine Psychotherapie in psychotherapeutischer Sprechstunde: Überbrückung mit Bibliotherapie, Selbsthilfe- und digitalen Angeboten

Person-bezogene Kontextfaktoren

Mangel an krankheitsbezogenem Wissen

Psychoedukation, evidenzbasierten Patienteninformationen zur Verfügung stellen, Bibliotherapie

ungünstiges Bewältigungsverhalten

Klärung sekundärer Krankheitsgewinn (z. B. Rentenbegehren), psychotherapeutische Arbeit an Bewältigungsstrategien

Zu interventionsübergreifenden Wirk- und Einflussfaktoren speziell bei depressiven Erkrankungen siehe auch Tabelle 33 und Tabelle 34.

 Tabelle Tabelle 25: Adhärenz-Barrieren auf Seite der Behandelnden und mögliche Lösungsansätze

Tabelle 25: Adhärenz-Barrieren auf Seite der Behandelnden und mögliche Lösungsansätze

Kommunikationsgestaltung: Besteht eine vertrauensvolle Beziehung zu der Patientin/dem Patienten? Wird sie/er ausreichend in die Therapieentscheidung einbezogen?

Erkennen von Barrieren:

Reflektion der eigenen Kommunikationsgestaltung:

  • Habe ich eine positive Arzt/Therapeuten-Patienten-Kommunikation umgesetzt (z. B. akzeptierende, wertschätzende Haltung, ausreichend Zeit eingeplant, Sprache den Patientenbedürfnissen angepasst, konkrete Ziele vereinbart, Feedback der Patient*innen erfragt)?

Lösungsansätze:

  • Fortbildung für kommunikative Kompetenzen
  • Nutzung von Unterstützungsangeboten (z. B. Dolmetscher bei Sprachbarrieren)
  • Feedback-Fragebögen einsetzen

Therapieplanung: Zeitgerechte Initiierung oder Anpassung der Therapie? Ausreichende Berücksichtigung person- und umweltbezogener Kontextfaktoren?

Erkennen von Barrieren:

Kritische Reflexion der eigenen Maßnahmen zur adäquaten Therapieplanung:

  • Steht infrage, ob die Therapie zu spät initialisiert oder angepasst wird?
  • Berücksichtigung aller wichtigen Informationen und Kontextfaktoren im Behandlungsverlauf?

Lösungsansätze:

  • Behandlungsroutinen, gezielte Konsultationsplanung
  • Nutzung von Erhebungsinstrumenten
  • digitale Unterstützung des Monitorings
  • Qualitätsmanagement

Leitliniengerechtes Vorgehen: Kenntnisse und Umsetzung aktueller Leitlinien-Empfehlungen?

Erkennen von Barrieren:

  • Gibt es Leitlinien-Empfehlungen und wurden diese bei der Therapieplanung ausreichend berücksichtigt?
  • Ist die Anwendbarkeit evidenzbasierter Empfehlungen im individuellen Fall unklar?

Lösungsansätze:

Praxisorganisation und interprofessionelle Kooperation: Zeitmanagement oder andere organisatorische und strukturelle Barrieren?

Erkennen von Barrieren:

Reflektion der Praxisorganisation und Kooperation:

  • Praxisstruktur mit eindeutiger Aufgabenteilung (z. B. digitale Unterstützungssysteme (Patientenorganisation, Therapieplanung, -entscheidung, Dokumentation, Klima und Kommunikation im Team)?
  • adäquate interprofessionelle Kooperation (z. B. Absprache von Therapiezielen und Therapiestrategien mit Behandelnden, Pflegenden und anderen an der Versorgung Beteiligten)?

Lösungsansätze:

  • Praxisstrukturen optimieren, Einbezug von Unterstützungssystemen (z. B. digitale Routinen), Teambesprechungen,
  • strukturierte und transparente interprofessionelle Kommunikation (z. B. formale Mitteilungsbögen, Nutzung von Medikationsplan und EPA, konsiliarische Absprachen)

Zu interventionsübergreifenden Wirk- und Einflussfaktoren speziell bei depressiven Erkrankungen siehe auch Tabelle 33 und Tabelle 34.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis und Versorgungsproblem

Die konsensbasierte Empfehlung basiert auf klinischen Erfahrungen und einem von der Leitliniengruppe wahrgenommenem Versorgungsproblem: Adhärenz wird noch zu oft als Synonym für Compliance verstanden, und beeinflussbare Adhärenz-Faktoren aufseiten der Patient*innen wie auch der Behandelnden werden vor einer Therapieentscheidung sowie vor einer Therapieintensivierung noch zu selten berücksichtigt.

 Überlegungen Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Unter Therapieadhärenz oder Non-Adhärenz verstehen die Autor*innen der Leitlinie eine Beschreibung, ob eine in partizipativer Entscheidungsfindung vereinbarte Therapiestrategie umgesetzt wird oder nicht. Während die Compliance die "Fügsamkeit" von Patient*innen bei der Umsetzung der von Behandelnden entwickelten Therapiepläne beschreibt, liegt im Sinne des Begriffs Adhärenz die Verantwortung für den Therapieerfolg sowohl bei Patient*innen als auch Behandelnden. Angestrebt wird, potenziell behebbare Gründe für Abweichungen von der vereinbarten Therapiestrategie frühzeitig zu identifizieren oder die gemeinsamen Ziele und Strategien auf Alltagstauglichkeit zu überprüfen (siehe auch Kapitel 3.2.2 Individuelle Therapieziele sowie 29244). Mögliche Gründe für ein Nicht-Erreichen von individuellen Therapiezielen sind sehr individuell und können unterschiedliche Ursachen haben, beispielsweise sekundärer Krankheitsgewinn, bisher nicht bekannte psychosoziale Faktoren oder Komorbidität, mangelndes Vertrauen in Therapeut*innen oder negative Reaktionen des Umfeldes (Tabelle 24). Sie können auch auf Seite der Behandelnden liegen (Tabelle 25).

Mögliche Adhärenz-Barrieren zu bedenken, bevor eine Therapie ausgewählt oder bei Nicht-Erreichung individueller Therapieziele angepasst oder geändert wird, ist wichtig, da sie möglicherweise behebbar sind, beispielsweise durch das gezielte Ansprechen möglicher Nebenwirkungen (z. B. verzögerter Wirkeintritt bei Erstanwendung bestimmter Antidepressiva; Nebenwirkungen, die im Verlauf der Therapie abnehmen oder verschwinden). Ein ergebnisoffener Umgang ist dabei wichtig für das Vertrauensverhältnis, damit die Patient*innen potenzielle Probleme offen ansprechen können. Gegebenenfalls ist eine Unterstützung durch An- und Zugehörige oder Pflegepersonal sinnvoll, und auch Apotheker*innen können arzneimittelbezogene Probleme identifizieren und gemeinsam mit Patient*innen und Behandelnden nach Lösungen suchen. Spezifische Unterstützungsangebote sowie verständliche Informationen sind dabei an den individuellen Bedarf anzupassen. Auch die Akzeptanz einer bewussten Ablehnung durch den/die Patient*in ist zu berücksichtigen, wobei im Therapieverlauf ein erneutes Unterstützungsangebot hilfreich sein kann.

3.6  Einbindung von Angehörigen

Empfehlung

Empfehlungsgrad

3-8 | modifiziert 2022

Wenn die Patient*innen damit einverstanden sind, sollen Angehörige in die Aufklärung, Information und Behandlung eingebunden werden.

Starke Empfehlung

RationaleRationale

Die Einbindung von Angehörigen ist ein wichtiges Therapieprinzip bei der Behandlung von Patient*innen mit depressiven Störungen, da sie wichtige unterstützende Funktionen übernehmen können. Außerdem betreffen Entscheidungen, die über die Behandlung der Patient*innen getroffen werden, auch die Angehörigen, so dass die Information darüber auch aus ethischen Gründen angebracht ist. Hinzu kommt, dass die Angehörigen oft selbst Unterstützung benötigen. Die Leitliniengruppe und insbesondere die Patientenvertreter nehmen wahr, dass die Berücksichtigung und Einbindung von Angehörigen in der Praxis häufig nicht oder nicht konsequent genug geschieht. Daher spricht sie konsensbasiert eine explizite Empfehlung dafür aus.

 Evidenzgrundlage Evidenzbasis

Die konsensbasierte Empfehlung beruht auf ethischen und klinischen Erwägungen.

 Überlegungen Erwägungen, die die Empfehlung begründen

Depressive Störungen betreffen nicht nur die Patient*innen allein, sondern auch ihr soziales Umfeld. Da die Betroffenen den größten Teil ihrer Zeit nicht in Behandlung, sondern zu Hause sind, stellen An- und Zugehörige, die sich um sie kümmern, ein ganz wesentliches Element in der Versorgung dar. Aus Sicht der Leitliniengruppe wird dies in der Praxis jedoch oft vernachlässigt.

Angehörige von Patient*innen mit depressiven Störungen sind oft überlastet und erschöpft, weil sie den Großteil der alltäglichen Aufgaben allein übernehmen müssen. Manche entwickeln selbst Schuldgefühle, bei anderen äußert sich die Hilflosigkeit auch in Ungeduld oder Ärger gegenüber den Betroffenen. Besonders schwierig für Angehörige ist der Umgang mit drohendem oder vollendetem Suizid.

Möglichkeiten zum Einbezug und zur Unterstützung von Angehörigen bestehen neben Beratungsangeboten in Form von Schulungen; es existieren Selbsthilfegruppen für Angehörige sowie gemischte Gruppen für Betroffene und Angehörige. Auch in therapeutische Maßnahmen können Angehörige ggf. einbezogen werden, z. B. bei bestimmten Formen von Psychotherapie.

 Patientenblatt Patientenmaterialien
  • Patientenblatt "Depression – Was sollten Angehörige wissen?" (siehe Patientenblätter).
NVL Unipolare Depression, Version 3.2, 2022

Mehr zur NVL Unipolare Depression

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  • Langfassung

    NVL Unipolare Depression, Version 3.2, 2022

  • Kurzfassung

    NVL Unipolare Depression, Version 3.2, 2022

Das Archiv enthält abgelaufene, zurückgezogene Dokumente zur Nationalen Versorgungsleitlinie Unipolare Depression.

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zuletzt verändert: 04.07.2023 | 15:27 Uhr