5 Behandlung bei akuter depressiver Episode
Die Empfehlungen in diesem Kapitel adressieren sowohl erstmalig auftretende als auch rezidivierende akute depressive Episoden nach Remission > 6 Monate. In den Algorithmen zur schweregradabhängigen Behandlung akuter depressiver Störungen (Abbildung 11, Abbildung 12) sind die Empfehlungen des Kapitel zusammengefasst; eine ausführliche Darstellung der zugrundeliegenden Evidenz und klinischen Erwägungen findet sich bei den einzelnen Empfehlungen.
Der Algorithmus ist aktiv: Sie können den Verweisen folgen und per Klick auf die entsprechende Stelle direkt in die Leitlinie "springen". 1 z. B. frühere mittelschwere/schwere Episoden; psychosoziale Risikofaktoren; Komorbidität; 2 angeleitete Selbsthilfe, hausärztliche (psychosomatische) Grundversorgung oder psychiatrische, psychosomatische bzw. psychotherapeutische Basisbehandlung (Gesprächsleistungen außerhalb der Richtlinien-Psychotherapie; inkl. psychotherapeutische Sprechstunde) 3 Internet- und mobilbasierte Interventionen (IMI) sollen Patient*innen mit leichten depressiven Episoden angeboten werden, eingebettet in ein therapeutisches Gesamtkonzept. "soll": starke Empfehlung "sollte": abgeschwächte Empfehlung "kann": offene Empfehlung |
Der Algorithmus ist aktiv: Sie können den Verweisen folgen und per Klick auf die entsprechende Stelle direkt in die Leitlinie "springen". 1 Internet- und mobilbasierte Interventionen
"soll": starke Empfehlung "sollte": abgeschwächte Empfehlung "kann": offene Empfehlung |
Patientenmaterialien
- Patientenblatt "Depression – Welche Behandlung ist für mich geeignet?"
- Patientenblatt "Psychotherapie und Antidepressiva: Was sind Vor- und Nachteile?"
(siehe Patientenblätter)
5.1 Behandlung bei leichten depressiven Episoden
Die Behandlung akuter leichter depressiver Störungen (Algorithmus siehe Abbildung 11) erfolgt nach einem therapeutischen Gesamtkonzept, das in jedem Fall psychoedukative Inhalte (z. B. Schlafhygiene) umfasst und durch unterstützende Angebote (z. B. Lichttherapie, Sport- und Bewegungstherapie) ergänzt wird (Empfehlungen dazu siehe Kapitel 9 Psychosoziale Therapien und unterstützende Maßnahmen).
5.1.1 Niedrigintensive Interventionen
Niedrigintensive Interventionen umfassen angeleitete Selbsthilfe und verschiedene gesprächsbasierte Interventionen unter Nutzung psychotherapeutischer Techniken (z. B. Verhaltensaktivierung, Problemlöseansätze, achtsamkeitsbasierte Interventionen). Sie sind gekennzeichnet durch einen niedrigschwelligen (keine Antragspflicht) und schnellen (keine Wartezeit) Zugang und können entweder im Rahmen der hausärztlichen (psychosomatischen) Grundversorgung oder als psychiatrische, psychosomatische bzw. psychotherapeutische Basisbehandlung (Gesprächsleistungen außerhalb der Richtlinien-Psychotherapie) erbracht werden (siehe auch Kapitel 4.2 Niedrigintensive Interventionen: Optionen und Versorgungsstrukturen). Zu Internet- und mobilbasierten Interventionen siehe Kapitel 5.1.2 Internet- und mobilbasierte Interventionen.
Niedrigintensive Maßnahmen zielen auf eine Stärkung von Selbstmanagement-Fähigkeiten und Bewältigungsverhalten (Coping-Strategien), auf Selbstwirksamkeit und Resilienz. Es existiert eine Vielzahl an Optionen; die Evidenz für die einzelnen Interventionen ist jedoch begrenzt und die Evidenzqualität unterschiedlich von moderat bis sehr schwach. Dennoch spricht die Leitliniengruppe eine starke Empfehlung aus, da die Stärkung der Selbstmanagement-Fähigkeiten grundsätzlich eine wichtige Säule der Behandlung depressiver Störungen darstellt und Behandlungslast sowie Schadenspotenzial niedrigintensiver Maßnahmen gering sind. Zudem reduzieren sie bei selbstlimitierenden leichtgradigen depressiven Störungen erfahrungsgemäß die Symptomatik in ausreichendem Maße, auch angesichts der geringen Effektstärken höherintensiver Maßnahmen in dieser Patientengruppe.
In Abhängigkeit von vorhandenen Ressourcen aufseiten der Behandelnden und den individuellen Bedürfnissen der Patient*innen ist im Sinne einer partizipativen Entscheidungsfindung abzuwägen, ob und wenn ja welche niedrigintensiven Maßnahmen infrage kommen. Die Empfehlung ist bewusst als Angebot formuliert, um auszudrücken, dass niedrigintensive Optionen wie Internet- und mobilbasierte Interventionen nicht notwendigerweise in Anspruch genommen werden müssen, bevor eine medikamentöse oder psychotherapeutische Behandlung begonnen wird.
Die Leitliniengruppe verzichtet auf eine Empfehlung zum aktiv-abwartenden Begleiten, da dies nicht gleichbedeutend mit "Nichtstun" ist, sondern immer auch niedrigintensive Interventionen in Form der Aushändigung von Selbsthilfe-Literatur oder psychoedukativ-supportiver Gespräche umfasst.
Zur Bedeutung einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Patient*innen und Behandelnden im Rahmen niedrigintensiver Interventionen und zu anderen allgemeinen Wirk- und Einflussfaktoren siehe Tabelle 33 und Tabelle 34.
Evidenzbasis
Die Empfehlung beruht auf der systematischen Recherche zur 2. Auflage sowie auf neuen systematischen Recherchen zu niedrigintensiven und zu psychoedukativen Interventionen.
Evidenzbeschreibung
Die systematische Recherche zu psychoedukativen Interventionen erbrachte keine neue aggregierte Evidenz bei Patient*innen mit depressiven Störungen. Der in der zweiten Auflage zitierte Review von Tursi et al. erfüllt nicht die methodischen Kriterien für systematische Übersichtsarbeiten, bietet aber einen Überblick über die Studienlage zu (face-to-face) Psychoedukation. Aufgrund der sehr heterogenen Endpunkte der eingeschlossenen Studien sind verallgemeinernde Aussagen zur Effektivität der Interventionen nicht möglich. Die Autor*innen des Reviews schlussfolgern, dass ein gesteigertes Wissen über Depression und deren Behandlung mit einer günstigeren Depressionsprognose sowie einer Reduktion der psychosozialen Belastung von Angehörigen verbunden sein könnte 30611. Die Evidenzqualität ist sehr schwach (siehe Evidenztabelle im Leitlinienreport 32140).
In der systematischen Recherche zu gesprächsbasierten niedrigintensiven Interventionen wurden 31 systematische Übersichtsarbeiten identifiziert, davon 3 themenübergreifende Arbeiten und 28 Arbeiten zu spezifischen Interventionen. In zwei themenübergreifenden Reviews mit kleinen methodischen Mängeln ergaben sich positive Effekte von angeleiteter Selbsthilfe gegenüber Standardbehandlung bezüglich Remission (OR 1,73 (95% KI 1,21; 2,50); N = 4, n = 807) und depressiver Symptomatik (SMD -0,40 (95% KI -0,69; -0,11); N = 4, n = 716), aber auch höhere Abbruchraten (OR 1,54 (95% KI 1,00; 2,37); N = 4, n = 807) 30783, 30785. Ein anderer themenübergreifender Review mit methodischen Limitationen fand für unbegleitete Selbsthilfe keine Überlegenheit gegenüber Standardbehandlung 30797.
Ein qualitativ hochwertiger Review ergab für Verhaltensaktivierung einen größeren Kurzzeiteffekt im Vergleich zur Standardbehandlung bezüglich der Response (RR 1,40 (95% KI 1,10; 1,78); N = 7, n = 1 533; quality of evidence moderate) und eine Nicht-Unterlegenheit gegenüber Verhaltenstherapie (RR 0,99 (95% KI 0,92; 1,07); N = 5, n = 601; quality of evidence moderate). Andere Outcomes wurden nicht berichtet 30504.
Weitere Reviews wurden zu Problemlöseansätzen, Bibliotherapie, achtsamkeitsbasierten Interventionen, aktiver Beobachtung sowie Kurzzeit-Verhaltenstherapie identifiziert 30810, 30789, 30804, 30790, 30798, 30801, 30796, 30805, 30793, 30808. Deren Aussagekraft erscheint jedoch aufgrund methodischer Limitationen der Reviews selbst sowie der niedrigen bis sehr niedrigen Evidenzqualität gering: Das Verzerrungsrisiko ist wegen Nicht-Verblindung hoch, die Interventionen sind sehr heterogen (Dauer, Behandelnde) und für einige der Interventionen existieren nur wenige Studien mit teils sehr kleinen Populationen, was sich auch in einer hohen statistischen Heterogenität äußert. Eine wesentliche Limitation stellt die Indirektheit der Ergebnisse dar: Zum einen wurden in der Regel nicht nur Patient*innen mit diagnostizierter Depression eingeschlossen und eine Unterscheidung nach Schweregrad fand nicht statt, zum anderen fokussieren die Studien häufig auf den Kontext "primary care", so dass eine Übertragbarkeit auf die deutsche Versorgung schwierig ist, beispielsweise in Abgrenzung zu einer Kurzzeit-Psychotherapie. Zudem wurden die Leistungen teilweise durch ausgebildetes nichtärztliches Personal erbracht, was in Deutschland außerhalb von Studien bislang nicht möglich ist.
Erwägungen, die die Empfehlung begründen
Neben dem niedrigschwelligen Zugang liegt der Vorteil niedrigintensiver Interventionen vor allem in der Vermeidung langer Wartezeiten und des Schadenspotenzials von Medikamenten. Zudem werden nicht unnötig Therapieplätze zuungunsten von Patient*innen blockiert, bei denen niedrigintensive Angebote nicht ausreichen.
Das Schadenspotenzial niedrigintensiver Angebote besteht aus Sicht der Leitliniengruppe vor allem darin, dass ggf. notwendige intensivere Behandlungen erst verzögert begonnen werden. Die Leitliniengruppe und insbesondere die Patientenvertreter sehen hier ein Versorgungsproblem, da sich die Patient*innen in der Versorgungspraxis mitunter genötigt sehen, erst verschiedene niedrigintensive Angebote auszuprobieren, ehe sie eine höherintensive Therapie bekommen können.
Gegen den Einsatz von Maßnahmen mit niedriger Intensität sprechen aus Sicht der Leitliniengruppe Risikofaktoren für eine Verschlimmerung oder Chronifizierung der depressiven Symptomatik. Dies können neben früheren depressiven Episoden z. B. der biographische und psychosoziale Kontext (z. B. partnerschaftliche Probleme) sein, die Dauer der Problematik zum Zeitpunkt der Diagnose, larvierte Depressionen oder Komorbidität (z. B. Angst- oder Essstörungen).
Weiterführende Informationen: Kurzzeit-Gruppentherapie
Durch eine Änderung der Psychotherapie-Richtlinie 2020 steht in Deutschland als niedrigintensives Behandlungsangebot auch die Gruppentherapie mit 4 Sitzungen à je 100 min ohne Anzeige- oder Antragsverfahren gegenüber den Krankenkassen zur Verfügung.
5.1.2 Internet- und mobilbasierte Interventionen
Internet- und mobilbasierte Interventionen (IMI) sind zwar durch einen vergleichsweise niedrigschwelligen Zugang gekennzeichnet, jedoch nicht zwingend niedrigintensiv. In der NVL Unipolare Depression werden als IMI evidenzbasierte Angebote auf Basis psychotherapeutischer Techniken bezeichnet; ausschließlich informativ-psychoedukative peerbasierte Angebote (Chats, Foren) sind ausdrücklich nicht gemeint (siehe auch Kapitel 4.3 Internet- und mobilbasierte Interventionen: Optionen und Prinzipien).
Die Evidenzqualität für den Einsatz von therapeutisch begleiteten IMI bei depressiven Störungen wird insgesamt als niedrig eingeschätzt. Dies begründet sich auf Einschränkungen, die komplexen Interventionen immanent sind, beispielsweise ein häufig hohes Verzerrungsrisiko (keine Verblindung möglich) und eine hohe PICO-Heterogenität. Hinzu kommen teils weite Konfidenzintervalle und eine häufig hohe Abbruchrate. In Anbetracht der breiten Datenbasis und der konsistenten Ergebnisse sowie klinischen Erwägungen zu den allgemeinen Wirkfaktoren wie erhöhte Selbstwirksamkeit, der schnellen Verfügbarkeit und einer guten Integrierbarkeit in den Alltag spricht die Leitliniengruppe dennoch eine starke Empfehlung aus.
IMI stellen aus Sicht der Leitliniengruppe eine niedrigschwellige, aber nicht niedrigintensive Option dar. Eine Indikation bei leichtgradigen depressiven Störungen sieht die Leitliniengruppe als ersten Schritt im Sinne eines Stepped-care-Ansatzes, unter der Voraussetzung einer ärztlichen bzw. psychotherapeutischen Verordnung und Begleitung. Dabei ist die Empfehlung bewusst als Angebot formuliert, um auszudrücken, dass IMI nicht notwendigerweise in Anspruch genommen werden müssen, bevor eine andere Behandlung begonnen wird.
Aus Sicht der Leitliniengruppe ist es sehr wichtig, dass IMIs grundsätzlich ärztlich bzw. psychotherapeutisch verordnet und begleitet werden, inklusive regelmäßigem Monitoring von Adhärenz und Wirksamkeit (siehe Empfehlungen im Kapitel 4.3 Internet- und mobilbasierte Interventionen: Optionen und Prinzipien).
Evidenzbasis
Es erfolgte eine systematische Recherche nach aggregierter Evidenz sowie nach Primärstudien aus dem deutschen Kontext.
Evidenzbeschreibung
Es wurden drei systematische Reviews zu IMI bei Patient*innen mit einer (kategorial) definierten diagnostizierten Depression identifiziert, von denen zwei Aussagen zur Wirksamkeit treffen. Um eine breitere Evidenzbasis zu schaffen, wurden zusätzlich Reviews berücksichtigt, die (auch) Studien einschlossen, bei denen keine formale Diagnostik durchgeführt wurde, sondern bei denen mittels validierter Schwellenwerte (dimensional) auf eine Depression rückgeschlossen wurde.
In einer systematischen Übersichtsarbeit mit formaler Depressionsdiagnose ergab sich gegenüber Warteliste ein großer Effekt von IMI (SMD -0,9 (95% KI -1,07; -0,73); N = 10); weitere Aussagen waren wegen zu niedriger Evidenzqualität nicht möglich 30675. Ein qualitativ hochwertiger Review zu IMI bei Patient*innen mit diagnostizierter Depression fand direkt nach Abschluss der Interventionen moderate Effekte bezüglich der depressiven Symptomatik gegenüber Standardbehandlung (SMD -0,44 (95% KI -0,73; -0,15); I² = 86%, k = 10) und gegenüber Aufmerksamkeits-Placebo (SMD -0,51 (95% KI -0,73; -0,30); I² = 66%, k = 12) sowie große Effekte gegenüber Warteliste (SMD -1,01 (95% KI -1,23; -0,79); I² = 73%, k = 19). Die Effekte blieben über längere Zeit erhalten, wobei die Differenz der Effektstärken zurückging. Im Vergleich zu einer Behandlung mit unmittelbarem Kontakt waren IMI zu keinem Zeitpunkt signifikant unterlegen (k = 4). Für die Kombination von IMI mit Face-to-face-Interventionen ergaben sich im Vergleich zu Face-to-Face-Interventionen allein kleine zusätzliche Effekte auf die depressive Symptomatik (SMD -0,27 (95% KI -0,48; -0,05); I² = 53%, k = 8). Metaanalysen zu weiteren Fragestellungen wurden aufgrund zu großer Heterogenität der Studien nicht durchgeführt 31090.
In den zusätzlich betrachteten Reviews, die (auch) Patient*innen ohne formale Depressionsdiagnostik einschlossen, ergaben sich Hinweise darauf, dass es unter unbegleiteten IMI nicht seltener zu einer Verschlechterung der Symptomatik kommt als in den Kontrollgruppen 30674, dass begleitete Interventionen effektiver sind als unbegleitete 31089, dass IMI auf Basis verhaltenstherapeutischer Konzepte einer Verhaltenstherapie mit unmittelbarem Kontakt nicht unterlegen sind 30678 und dass die Effektivität durch ein professionelles Training und Supervision der Begleitenden sowie durch eine längere Dauer positiv beeinflusst wird 30670. Die methodische Qualität dieser Reviews ist jedoch jeweils sehr schwach und die Evidenzqualität ist niedrig.
Eine zusätzliche Recherche nach Evidenz aus dem deutschen Versorgungskontext ergab mehrere durch RCT validierte Interventionen mit unterschiedlichen Komponenten und in unterschiedlichen Settings (siehe Evidenztabelle im Leitlinienreport 32140). In einem in hausärztlichen Praxen durchgeführten Programm erwies sich der Effekt dabei als in allen Altersgruppen stabil 30758.
Limitationen
Wie bei anderen komplexen Interventionen ist bei IMI eine Verblindung problematisch; daraus resultieren erhebliche Verzerrungsrisiken. Hinzu kommt eine sehr hohe Heterogenität der Populationen, Interventionen, Kontrollen und gemessenen Outcomes.
Studien zur Anwendung von IMI bei diagnostizierter Depression sind in der Minderheit; meist werden auch Patient*innen mit selbstberichteter depressiver Symptomatik eingeschlossen, so dass eine Übertragbarkeit (Direktheit) auf die in dieser Leitlinie adressierte Zielgruppe fraglich ist. Die mit Abstand meisten IMI beruhen auf verhaltenstherapeutischen Konzepten; deutlich weniger Forschung liegt bisher zu psychodynamisch orientierten Konzepten vor.
Die fast immer hohen Abbruchraten bei IMI stellen einerseits ein potenzielles Verzerrungsrisiko bezüglich der Effektivität dar (attrition bias), andererseits verdeutlichen sie, dass IMI nicht für alle Patient*innen gleich gut geeignet sind, sondern dass die persönlichen Präferenzen und (technischen) Möglichkeiten eine wichtige Rolle spielen.
Weitere Erwägungen, die die Empfehlung begründen
Neben dem niedrigschwelligen Zugang liegt der Vorteil von IMI vor allem in der Vermeidung langer Wartezeiten und des Schadenspotenzials von Medikamenten. Zudem werden nicht unnötig Therapieplätze zuungunsten von Patient*innen blockiert, bei denen niedrigintensive Angebote oder IMI nicht ausreichend sind.
Das Schadenspotenzial von IMI besteht wie bei anderen niedrigschwelligen Interventionen aus Sicht der Leitliniengruppe vor allem in einer möglichen Verzögerung intensiverer Behandlungen, dem Druck auf Patient*innen, zuerst solche Angebote auszuprobieren sowie bei Nichtverbesserung einer Verschlimmerung von Schuld- und Versagensgefühlen.
Aus Sicht der Leitliniengruppe spricht es gegen den Einsatz von IMI, wenn bestimmte Risikofaktoren für eine Verschlimmerung oder Chronifizierung der depressiven Symptomatik vorliegen. Dies können neben früheren depressiven Episoden z. B. der biographische und psychosoziale Kontext (z. B. partnerschaftliche Probleme) sein, die Dauer der Problematik zum Zeitpunkt der Diagnose, larvierte Depressionen oder Komorbidität (z. B. Angst- oder Essstörungen).
Die Leitliniengruppe sieht zudem den Nachteil, dass die Behandelnden aus einer unübersichtlichen Vielzahl mehr oder weniger evidenzbasierter Angebote auswählen müssen. Für Empfehlungen und Hilfen zur Auswahl der IMI siehe Kapitel 4.3 Internet- und mobilbasierte Interventionen: Optionen und Prinzipien.
5.1.3 Psychotherapie und medikamentöse Therapie
Für die Psychotherapie ist die Evidenzqualität vor dem Hintergrund der methodischen Limitationen komplexer Interventionen zwar niedrig (siehe Kapitel IV Methodenkritische Aspekte), allerdings erbrachten Metaanalysen weitgehend homogene Ergebnisse zur Effektivität bezüglich der priorisierten Endpunkte wie auch zu den Effektgrößen. Aus der Evidenz lässt sich kein Unterschied in der Effektivität zwischen leichtem und mittlerem Schweregrad ableiten. Angesichts der kleinen Effekte auf die depressive Symptomatik und der Wirklatenz von Psychotherapie sieht die Leitliniengruppe eine Indikation bei leichter depressiver Symptomatik vor allem bei rezidivierenden Episoden oder bei erhöhtem Risiko, außerdem im Sinne eines Stepped-care-Ansatzes als zweiten Schritt nach Nichtansprechen auf niedrigintensive Interventionen.
Für die medikamentöse Therapie ist die Evidenzqualität vor dem Hintergrund methodischer Limitationen moderat (siehe Kapitel IV Methodenkritische Aspekte); die Ergebnisse der Metanalysen zur Effektivität bezüglich der priorisierten Endpunkte wie auch zu den Effektgrößen sind weitgehend homogen. Aus der Evidenz lässt sich kein Unterschied in der Effektivität zwischen leichtem und mittlerem Schweregrad ableiten. Die mittleren Effekte auf die depressive Symptomatik sind jedoch insgesamt klein und nicht oder nur marginal von klinischer Relevanz. Daher erscheint die Wahrscheinlichkeit, dass einzelne Patient*innen klinisch relevant profitieren, bei leichter depressiver Symptomatik als gering. Demgegenüber stehen Bedenken bezüglich Nebenwirkungen und Rebound-Effekten. Aufgrund des ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses empfiehlt die Leitliniengruppe Antidepressiva daher eher nicht für die Erstbehandlung bei leichten depressiven Episoden. Bei rezidivierenden depressiven Episoden, bei Nichtansprechen auf andere, z. B. niedrigintensive Interventionen sowie bei Vorliegen von Risikofaktoren verbessert sich das Nutzen-Risiko-Verhältnis und die Leitliniengruppe sieht dann auch bei leichter Symptomatik eine mögliche Indikation für Antidepressiva, unter der Voraussetzung, dass die medikamentöse Therapie in ein therapeutisches Gesamtkonzept eingebunden ist, das psychoedukative Inhalte (z. B. Schlafhygiene) und ggf. unterstützende Angebote (z. B. Sporttherapie) umfasst. Der Empfehlungsgrad ist aufgrund von Sicherheitserwägungen abgeschwächt.
Für Empfehlungen durch Durchführung der Behandlung, beispielsweise zur Auswahl des psychotherapeutischen Verfahrens bzw. des spezifischen Antidepressivums, zum Monitoring, zur Wirkungsprüfung und zur Beendigung der Behandlung, siehe Kapitel 4.4 Medikamentöse Therapie: Optionen und Prinzipien sowie Kapitel 4.5 Psychotherapie: Optionen und Prinzipien.
Evidenzbasis
Die Empfehlungen beruhen auf der systematischen Recherche zur 2. Auflage und wurden um systematische Übersichtsarbeiten ergänzt, die in der themenübergreifenden systematischen Recherche identifiziert bzw. selektiv eingebracht wurden.
Evidenzbeschreibung – Effektstärke von Psychotherapie
Effektstärken einzelner Psychotherapieverfahren
Zur Wirksamkeit einzelner Psychotherapieverfahren versus Sham-Psychotherapie oder versus andere Psychotherapien liegt eine Vielzahl von RCT und Metaanalysen vor, insbesondere zur Verhaltenstherapie. Die Empfehlungen der 2. Auflage der NVL Unipolare Depression stützten sich auf Metanalysen zu einzelnen psychotherapeutischen Verfahren 4845, 4843, 4844, 5536, 10293, 31096, 10301, 31094, 31095 sowie auf verfahrensübergreifende Metananalysen 30937, 31091 und auf Übersichtsarbeiten zu Gruppentherapie 4854, 16171, 16058.
In der themenübergreifenden Recherche wurden weitere Übersichtsarbeiten zu einzelnen psychotherapeutischen Verfahren identifiziert, die jeweils von moderater bis hoher methodischer Qualität sind (Qualitätsbewertung siehe Evidenztabellen im Leitlinienreport 32140):
Ein qualitativ hochwertiger HTA zu Systemischen Therapien fand im Vergleich zu anderen Psychotherapien (psychodynamische Therapie bzw. nicht näher bezeichnet) Vorteile bezüglich der depressiven Symptomatik nach 6 bzw. 7 Monaten (OR 1,97 (95% KI 1,22; 3,15); N = 2, n = 392). In Einzelstudien ergaben sich zudem Unterschiede im Vergleich zu Beratung und Psychoedukation für die Rückfallrate (OR 0,07 (95% KI 0,01; 0,84); N = 1, n = 20) und für die gesundheitsbezogene Lebensqualität (Hedges’ g = 0,73 (95% KI 0,25; 1,21); N = 1, n = 72). Aufgrund des überwiegend als hoch eingeschätzten Verzerrungsrisikos, der hohen PICO-Heterogenität, der teils sehr kleinen Populationen und der fehlenden Daten für relevante Endpunkte wird die Ergebnissicherheit als niedrig eingeschätzt 29693.
Ein Cochrane-Review zu Psychodynamischen Therapien errechnete bezüglich der depressiven Symptomatik eine Standardisierte Mittelwertdifferenz von -0,47 (95% KI -0,67; -0,28); I2 = 60%; N = 5, n = 435) für eine Kurzzeit-Intervention (< 3 Monate) im Vergleich zu Warteliste, Standardbehandlung oder minimaler Behandlung. Nach 3–9 Monaten Behandlung war das Ergebnis statistisch nicht signifikant (SMD -0,27 (95% KI -0,60; 0,07); N = 3, n = 257, I2 = 45%), ebenso nach Langzeit-Behandlung (≥ 9 Monate) (SMD 0,04 (95% KI -0,38; 0,46); N = 1, n = 89) 29470. Die Evidenzqualität wurde nicht endpunktspezifisch eingeschätzt, ist aber aufgrund der kleinen Studien und der hohen statistischen und PICO-Heterogenität als niedrig bis sehr niedrig zu beurteilen.
Ein weiterer Cochrane-Review verglich behaviorale mit anderen Psychotherapien und fand keine signifikanten Unterschiede bezüglich Remission und Ansprechraten (niedrige Evidenzqualität) sowie depressiver Symptomatik und Abbruchraten (moderate Evidenzqualität) 29423.
Zwei Cochrane-Reviews untersuchten kognitive und behavoriale Therapien der "dritten Welle". Im Vergleich zu Standardbehandlung ergab sich ein signifikanter Unterschied bezüglich der Remission (RR 0,77; 95% KI 0,67; 0,88; N = 2, n = 140) und der depressiven Symptomatik (SMD -1,12 (95% KI -1,53; -0,71)) und kein Unterschied bezüglich der Abbruchraten (RR 1,01 (95% KI 0,08; 12,30); N = 4, n = 224) 29428. Im Vergleich zu anderen Psychotherapien zeigten sich zu keinem der drei Endpunkte Unterschiede 29427. Die Evidenzqualität war jeweils sehr niedrig.
Ein weiterer Cochrane-Review verglich Paartherapie mit individueller Psychotherapie und fand in 14 RCT (n = 651) für keinen Endpunkt signifikante Unterschiede (Evidenzqualität niedrig bis sehr niedrig). Für Vergleiche mit keiner oder minimaler Behandlung oder medikamentöser Therapie standen zu wenige Daten zur Verfügung, um Aussagen treffen zu können 29466.
Verfahrensübergreifende und schweregradspezifische Effektstärken von Psychotherapie
In einer in der themenübergreifenden systematischen Recherche identifizierten qualitativ hochwertigen Übersichtsarbeit lag die SMD bei leichteren ("less severe") depressiven Symptomen für individuelle kognitive Verhaltenstherapie (KVT) versus Medikamentenplacebo (n = 1 440) bei -0,47 (95% CrI -0,87; -0,04; moderater Effekt) und für eine kurzzeitige psychodynamische Therapie (PDT) (n = 171) bei -0,32 (95% CrI -1,18; 0,53; nicht signifikant); bei Adjustierung für den Small-study-Bias reduzierten sich die Effekte und waren auch für die KVT nicht mehr statistisch signifikant. Die Übertragbarkeit dieser Ergebnisse auf die Schweregrade nach ICD-Definition ist erschwert, da die Arbeit nur zwischen leichteren und schwereren Formen unterschied (kein mittlerer Schweregrad definiert) 29705.
Eine selektiv eingebrachte Metaanalyse, ein Update der in der 2. Auflage zitierten Arbeit 31091, untersuchte als einzige schwerpunktmäßig den Zusammenhang zwischen Studienqualität (Verzerrungsrisiko) und der Effektstärke psychotherapeutischer Behandlungen. Über alle Studien hinweg ergab sich bezüglich der depressiven Symptomatik eine moderate Effektstärke (g = 0,70 (95% KI 0,64; 0,75); I2 = 76%; N = 369; westliche Populationen: g = 0,63 (95% KI 0,58; 0,68); I2 = 69%; N = 325). In Studien mit niedrigem Verzerrungsrisiko waren die gepoolten Effekte klein bis moderat (d = 0,46 (95% KI 0,41; 0,52); I2 = 58%; N = 108; westliche Populationen: d = 0,38 (95% KI 0,32; 0,44); I2 = 46%; N = 71). Nach Adjustierung für Publikationsbias lag die schweregradübergreifende Effektgröße bei westlichen Populationen bei g = 0,31 (95% KI 0,24; 0,38); kleiner Effekt 31092.
Evidenzbeschreibung – Effektstärke der medikamentösen Therapie
Wirkstoffspezifische Effektstärken von Antidepressiva
Zur Wirksamkeit von Antidepressiva versus Placebo oder versus andere Antidepressiva liegt eine Vielzahl von RCT und Metaanalysen vor. Die Empfehlungen der 2. Auflage der NVL Unipolare Depression stützten sich auf Metanalysen zu einzelnen Wirkstoffen bzw. Wirkstoffgruppen: 10134 TZA/SSRI vs. Placebo; 10137 TZA; 10134, 10135 SSRI vs. TZA; 10140 Fluoxetin vs. Placebo/TZA; 10162 MAO-I; 10192 MAO-I, TZA; 16079 neuere Antidepressiva) sowie auf wirkstoffübergreifende Metananalysen 16010, 5848, 10117, 5486, 17392, 31098, 31105. Neue Primärstudien zu diesen klinisch etablierten Antidepressiva wurden seitdem kaum publiziert.
In einer in der themenübergreifenden Recherche identifizierten qualitativ hochwertigen Übersichtsarbeit lag die SMD bei leichteren ("less severe") depressiven Symptomen für SSRI (n = 3 110) bei -0,27 (95% CrI -0,56; 0,04; nicht signifikant) und für TZA (n = 840) bei -0,4 (95% CrI -0,75; -0,03); bei Adjustierung für den Small-study-Bias reduzierten sich die Effekte auf -0,20 (-0,48; 0,09) respektive -0,30 (-0,66; 0,06) und waren auch für TZA nicht mehr signifikant. Die Übertragbarkeit dieser Ergebnisse auf die Schweregrade nach ICD-Definition ist erschwert, da die Arbeit nur zwischen leichteren und schwereren Formen unterschied (kein mittlerer Schweregrad definiert) 29705.
In einer selektiv eingebrachten Übersichtsarbeit (N = 522, n = 115 000), die eine in der 2. Auflage zitierte Arbeit aktualisiert 17392, ergaben sich in der paarweisen Metaanalyse für alle untersuchten Antidepressiva gegenüber Placebo signifikante Effekte bezüglich Response und für die meisten auch bezüglich Remission; die standardisierte Mittelwertdifferenz für die Reduktion der depressiven Symptomatik lag über alle Antidepressiva-Gruppen und Schweregrade hinweg bei 0,30 (95% CrI 0,26; 0,34), was einem kleinen Effekt entspricht 31097. Das Biasrisiko wurde für 9% der Studien als hoch, für 73% als moderat und für 18% als niedrig eingeschätzt; eine Subanalyse nach Biasrisiko wurde nicht durchgeführt. Eine ebenfalls selektiv eingebrachte kritische Re-Analyse dieser Daten errechnete eine SMD von 0,29 ((95% KI 0,27; 0,31); I2 = 40,1%; N = 253) bzw. speziell für die HAMD-Skala eine Differenz von 1,97 Punkten ((95% KI 1,74; 2,21); N = 109, I2 = 27,6%), was einem Effekt unterhalb der minimalen klinisch relevanten Differenz entspricht (30942; siehe auch Anhang 2).
Schweregradspezifische Effektgrößen von Antidepressiva
Zur schweregradspezifischen Wirksamkeit von Antidepressiva existieren mehrere Metaanalysen. Die in der 2. Auflage zitierten Übersichtsarbeiten deuten darauf hin, dass die Differenz zwischen Antidepressivum und Placebo vom Schweregrad der Depression abhängig ist. In beiden Reviews ergab sich nur bei schweren Depressionen ein klinisch relevanter Unterschied zwischen Placebo und aktiver Medikation 16010, 31098.
In einer in der themenübergreifenden Recherche identifizierten Metanalyse auf Individualdatenbasis zu neueren Antidepressiva war der Schweregrad als Kovariate ohne Einfluss. Der Effekt auf die depressive Symptomatik war insgesamt klein (SMD 0,2 bis 0,3) 31102.
Evidenzbeschreibung – Vergleich von Psychotherapie und medikamentöser Therapie
Effektivität in Abhängigkeit vom Schweregrad und von der Verblindung
In einem in der themenübergreifenden systematischen Recherche identifizierten, qualitativ hochwertigen HTA ergaben sich keine signifikanten Effektivitätsunterschiede zwischen neueren Antidepressiva und Verhaltenstherapie (Evidenzqualität: moderat); die Evidenzqualität für andere psychotherapeutische Verfahren war zu niedrig, um Aussagen zu treffen 29682.
Der Schweregrad der depressiven Symptomatik erwies sich in einer in der themenübergreifenden systematischen Recherche identifizierten Metaanalyse auf Individualdatenbasis (n = 1 700) als ohne Einfluss auf die vergleichende Effektivität einer medikamentösen oder verhaltenstherapeutischen Behandlung im ambulanten Setting 31122. Eine jüngere, selektiv eingebrachte Übersichtsarbeit betont, dass die Aussagekraft insbesondere bei milden und schweren Depressionen aufgrund der wenigen dazu eingeschlossenen Studien limitiert ist 31099.
Eine in der themenübergreifenden systematischen Recherche identifizierte Übersichtsarbeit auf Individualdatenbasis untersuchte die schweregradspezifische Effektivität von Verhaltenstherapie im Vergleich zu Medikamenten-Placebo. In der Metaanalyse (N = 5, n = 509) ergaben sich keine vom Schweregrad abhängigen Unterschiede bezüglich der depressiven Symptomatik 31100.
Einen speziellen Aspekt bei der Bewertung (Ergebnisse aus Vergleichen placebo-kontrollierter vs. nicht placebokontrollierter Studien) untersuchte eine selektiv eingebrachte Metaanalyse von 35 RCT. Sie erbrachte für den Vergleich medikamentöse Behandlung versus Psychotherapie keine signifikanten Effektivitätsunterschiede bei placebokontrollierten (verblindeten) Studien (SMD g = 0,02 (95% KI 0,15; 0,18); I2 = 0%; N = 10). Bei unverblindeten Vergleichen war der Unterschied zugunsten der medikamentösen Therapie statistisch signifikant; die Größe der Differenz blieb unterhalb der Relevanzschwelle (SMD g = -0,13 (95% KI -0,23, -0,03); I2 = 43%; N = 31). Sensitivitätsanalysen von Studien mit niedrigem Biasrisiko bestätigen diese Ergebnisse 30941.
Langzeitwirksamkeit
Die Autor*innen der bislang größten Analyse zum direkten Vergleich von medikamentösen und psychotherapeutischen Interventionen schätzen die Evidenz zu langfristigen Effekten (auch Carry-over-Effekten von Psychotherapie) als nach wie vor nicht belastbar ein, da in lediglich 3 Studien eine Nachbeobachtungszeit von mehr als 12 Monaten berichtet wurde und andere Studien (≤ 12 Monate) sehr heterogen waren bezüglich der Fortführung der Therapie nach Ende der Akutphase 31099.
Eine selektiv eingebrachte Übersichtsarbeit verglich die Langzeiteffektivität einer Verhaltenstherapie in der Akutphase ohne Weiterführung mit einer medikamentösen Erhaltungstherapie nach medikamentöser Akutbehandlung. Nach einem Jahr ergaben sich keine signifikanten Unterschiede, jedoch deutet sich ein Carry-over-Effekt für die Verhaltenstherapie an (OR 1,62 (95% KI 0,97; 2,72); I2 = 0; N = 5), wobei die Aussagekraft aufgrund der schmalen Datenbasis niedrig ist 31120.
Symptomspezifische Wirksamkeit
Zur symptomspezifischen Wirksamkeit von medikamentöser Therapie und Psychotherapie (Verhaltenstherapie) wurde in der themenübergreifenden systematischen Recherche eine Metanalyse identifiziert. Für die meisten untersuchten Einzelsymptome ergaben sich bei methodischen Einschränkungen und geringer Datenbasis keine Effektivitätsunterschiede oder die Effektgrößen blieben unterhalb der Schwelle klinischer Relevanz (Cohen‘s d = 0,13–0,16) 31121.
Evidenzbeschreibung – Limitationen
Die Evidenzbasis für Psychotherapie bei depressiven Störungen ist insgesamt breit, jedoch liegen für die verschiedenen Verfahren unterschiedlich viele Studien vor: Während es mehr Primärstudien und Metaanalysen für verhaltenstherapeutische Ansätze gibt, ist die Anzahl der Studien für psychodynamische und systemische Ansätze geringer. Da der Fokus der Evidenzaufbereitung für Version 3 der NVL auf die schweregradspezifische Wirksamkeit gelegt wurde, erfolgte keine verfahrensspezifische Recherche und Darstellung. Diese Limitation wurde vor dem Hintergrund akzeptiert, dass bei depressiven Störungen verfahrensübergreifende Wirk- und Einflussfaktoren vermutlich eine wesentliche Rolle spielen (siehe Kapitel 4.5.3 Wirk- und Einflussfaktoren psychotherapeutischer Interventionen) und dass die Wahl des Verfahrens in der deutschen Versorgungspraxis eher anhand der Präferenzen der Patient*innen und der Verfügbarkeit erfolgt (siehe Kapitel 4.5.5 Auswahl des psychotherapeutischen Verfahrens) und ambulant ohnehin auf die Richtlinientherapien beschränkt ist.
Das Verzerrungsrisiko ist bei Psychotherapie-Studien vergleichsweise hoch, vor allem aufgrund einer nur eingeschränkt möglichen Verblindung. Weitere Limitationen bestehen bezüglich eines möglichen Publikationsbias, bezüglich der Konsistenz der Studien (heterogene Ein- und Ausschlusskriterien, heterogene Vergleichsgruppen) sowie bezüglich der Übertragbarkeit auf die Alltagspopulation und den deutschen Versorgungskontext (ausführlich dazu siehe Kapitel IV Methodenkritische Aspekte). Aussagen zur Effektstärke bei unterschiedlichen Schweregraden sind auf Basis der existierenden Evidenz nur relativ zu den Effekten einer medikamentösen Behandlung möglich. Zur absoluten schweregradspezifischen Effektstärke treffen die zitierten Übersichtsarbeiten keine Aussage.
Für die medikamentöse Therapie liegt eine Vielzahl von Studien vor, wobei die Evidenzbasis für die einzelnen Wirkstoffe bzw. Wirkstoffgruppen unterschiedlich breit ist. Das Verzerrungsrisiko in Antidepressiva-Studien ist weitgehend gering, wobei eine funktionelle Entblindung aufgrund typischer Nebenwirkungen prinzipiell möglich ist. Weitere Limitationen bestehen bezüglich eines möglichen Publikationsbias, bezüglich der Konsistenz der Studien (heterogene Ein- und Ausschlusskriterien) sowie bezüglich der Übertragbarkeit auf die Alltagspopulation (ausführlich dazu siehe Kapitel IV Methodenkritische Aspekte).
Evidenzbeschreibung – Unerwünschte Effekte
Neben dem in die Entscheidung einzubeziehenden zeitlichen Aufwand für die Patient*innen und den teils langen Wegen betreffen unerwünschte Effekte einer adäquat durchgeführten Psychotherapie vor allem das soziale Umfeld der Patient*innen (z. B. Zunahme von Konflikten). Auch Fehlentwicklungen in der Beziehung zwischen Patient*innen und Psychotherapeut*innen sowie Stigmatisierung als psychisch Kranke zählen zu möglichen negativen Effekten einer Psychotherapie (siehe Kapitel 4.5.4 Nebenwirkungen in der Psychotherapie). Dies und andere Effekte der Psychotherapie können sich im Verlauf der Behandlung gegebenenfalls auch in einer verstärkten depressiven Symptomatik äußern. In einer selektiv eingebrachten Übersichtsarbeit speziell zum Endpunkt Verschlechterung lag das Risiko für Verschlechterung nach 2 Monaten in den Psychotherapie-Gruppen (N = 187) bei 2–5%, in Wartelisten-Gruppen (N = 90) bei 13%, in TAU-Gruppen (N = 76) bei 12% und unter Medikamentenplacebo (N = 5) bei 7% 31390.
Antidepressiva können mit verschiedenen Nebenwirkungen einhergehen (Nebenwirkungsprofile siehe Kapitel 4.4.3 Auswahl des Antidepressivums sowie Anhang 4), was Auswirkungen auf die Akzeptanz der Behandlung und die Adhärenz haben kann. In der oben beschriebenen Analyse von Cipriani et al. 2018 waren die Abbruchraten aufgrund von unerwünschten Effekten für nahezu alle Wirkstoffe signifikant höher im Vergleich zu Placebo 31097. Als mögliche negative Effekte sind zudem Rebound-Phänomene nach Beendigung der Behandlung abzuwägen, die mit der Gefahr eines erhöhten Risikos für Rezidive und Chronifizierung einhergehen (siehe Kapitel 4.4.8 Absetzen von Antidepressiva). Ein weiterer möglicher negativer Effekt einer medikamentösen Therapie besteht aus Sicht der Leitliniengruppe in der Förderung von Inaktivität, sowohl im sozialen als auch im körperlichen Bereich bzw. in mangelnder Adhärenz gegenüber psychoedukativen Empfehlungen sowie unterstützenden Maßnahmen.
Art und Häufigkeit unerwünschter Wirkungen von Psychotherapie und medikamentöser Therapie sind aus Sicht der Leitliniengruppe kaum vergleichbar, insbesondere weil unerwünschte Wirkungen bei Psychotherapie schwierig zu definieren sind und entsprechend kaum systematisch erfasst werden. Die Leitliniengruppe formuliert für dieses Problem Forschungsbedarf. Indirekte Evidenz liegt aus Untersuchungen zum Risiko für negative Outcomes und zu Abbruchraten vor: In einer selektiv eingebrachten Übersichtsarbeit zum Verschlechterungsrisiko unter Verhaltenstherapie oder medikamentöser Therapie (N = 16, n = 1 700) wurden keine signifikanten Unterschiede bezüglich jeglicher negativer Outcomes festgestellt (Verhaltenstherapie 14,1% (95% KI 10,1; 19,2); medikamentöse Therapie 12,7% (95% KI 9,1; 17,6); p = 0,54). Bei Patient*innen unter medikamentöser Therapie fehlten häufiger die Daten zum Studienende (18,5% vs. 12,0%; OR 1,67), woraus die Autor*innen auf häufigere Behandlungsabbrüche schließen 31093. In einem weiteren selektiv eingebrachten Review waren die Abbruchraten bei medikamentöser Behandlung signifikant größer als bei Psychotherapie (N = 58; RR 1,16 (95% KI 1,02; 1,31); I2 = 28%) 31099. Unklar ist allerdings, inwiefern Abbruchraten tatsächlich ein valider Parameter zum Vergleich negativer Wirkungen bei Psychotherapie und medikamentöser Therapie sind. Zum einen würde eine negative Psychotherapie-Wirkung wie die Entwicklung eines Abhängigkeitsverhältnisses nicht zum Abbruch der Behandlung führen, und zum anderen ist es plausibel anzunehmen, dass Abbrüche bei Psychotherapie später erfolgen als bei Medikamenten, da die unerwünschte Wirkung vermutlich erst später auftritt bzw. sich bemerkbar macht.
Klinische Erwägungen, die die Empfehlung begründen
Aus klinischer Perspektive sind leichte und mittelschwere Depressionen nur schwer abzugrenzen; zudem kommt es nicht nur auf die Summe der Symptome, sondern auch auf deren Art und die aus ihnen resultierende individuelle Belastung an. Das Symptomprofil spielt aus Sicht der Leitliniengruppe eine Rolle für die Wahl zwischen Psychotherapie und medikamentöser Therapie, jedoch liegt keine valide Evidenz zur symptomspezifischen Effektivität vor. Daher können in dieser Hinsicht lediglich klinische Erwägungen und Erfahrungen herangezogen werden.
Bei leichten depressiven Episoden spricht die Leitliniengruppe starke Empfehlungen für niedrigschwellige Interventionen aus (siehe Kapitel 5.1.1 Niedrigintensive Interventionen und Kapitel 5.1.2 Internet- und mobilbasierte Interventionen). Für eine sofortige Behandlung mit Psychotherapie oder Antidepressiva sprechen aus Sicht der Leitliniengruppe Risikofaktoren für eine Verschlimmerung oder Chronifizierung der depressiven Symptomatik. Dies können neben früheren depressiven Episoden z. B. der biographische und psychosoziale Kontext (z. B. partnerschaftliche Probleme) sein, die Dauer der Problematik zum Zeitpunkt der Diagnose, larvierte Depressionen oder Komorbidität (z. B. Angst- oder Essstörungen).
Die Leitliniengruppe formuliert als Versorgungsproblem, dass der Zugang zu einer Psychotherapie in Deutschland nach wie vor erschwert und mit relevanten Wartezeiten verbunden ist (siehe Exkurs: Wartezeiten auf Psychotherapie). Auch bei Terminen für eine psychiatrische Konsultation kann es zu mehrwöchigen Wartezeiten kommen. Hinzu kommt, dass die Patient*innen möglicherweise weder über bereits verbesserte Zugangswege (Dringlichkeitsbescheinigung für spezialfachärztliche und psychotherapeutische Termine, Psychotherapeutische Sprechstunde, Psychotherapeutische Akutbehandlung) noch über weniger intensive und kurzzeitige Therapieformen informiert sind. Die Leitliniengruppe betont in diesem Zusammenhang die wichtige Rolle der Hausärzt*innen für die Information und Weiterleitung der Patient*innen.
Als weiteres Versorgungsproblem sehen die Leitliniengruppe und insbesondere die Patientenvertreter, dass sich die Patient*innen in der Versorgungspraxis mitunter genötigt sehen, erst verschiedene niedrigintensive oder internetbasierte Angebote auszuprobieren, ehe sie eine "richtige" Therapie beantragen können. Niedrigintensive Verfahren dürfen keinesfalls eine "Hürde" für den Beginn einer Psychotherapie darstellen. Andererseits ist gerade bei erstmalig auftretenden leichten depressiven Störungen die Anwendung niedrigintensiver Interventionen sinnvoll, nicht zuletzt in Anbetracht des Mangels an Plätzen für Psychotherapie, die von Patient*innen mit höherem Schweregrad ebenfalls benötigt werden. Daher sollen erst niedrigschwellige Verfahren – zu denen auch die Psychotherapeutische Sprechstunde zählt – zumindest angeboten werden. Die Inanspruchnahme einer Psychotherapeutischen Sprechstunde ist in der Regel ohnehin obligatorisch vor dem Beginn einer Richtlinienpsychotherapie (vgl. Abbildung 11).
Bezüglich der medikamentösen Behandlung nimmt die Leitliniengruppe in der Versorgungspraxis eine nach wie vor zu schnelle und zu leichtfertige Verschreibung von Antidepressiva ohne Einbindung in ein therapeutisches Gesamtkonzept wahr.
Bei der Entscheidung für oder gegen eine der beiden Therapien gilt es auch Faktoren zu berücksichtigen, die mit einem erhöhten Risiko für ein ungünstiges Ansprechen oder Nichtansprechen verbunden ist. Bei Antidepressiva zählen dazu z. B. ein niedriges Ersterkrankungsalter, psychotische Symptome, ein erhöhtes Suizidrisiko, somatische und psychische Komorbidität, eine höhere Anzahl in der Vergangenheit eingenommener Antidepressiva sowie vorangegangener depressiver Episoden, eine längere Dauer der gegenwärtigen depressiven Episode u. a. 31108, 31110, 31109, 31107. Prädiktive Faktoren für ein ungünstiges Ansprechen oder Nichtansprechen von Psychotherapie sind bislang nicht gut untersucht. Aus klinischer Erfahrung sind hier vor allem eine geringe Motivation und negative Erwartungshaltung, insbesondere nach negativen Vorerfahrungen mit Psychotherapie, eine komorbide Persönlichkeitsstörung sowie ausgeprägte zwischenmenschliche und damit verbundene Kommunikationsprobleme zu nennen.
Patientenmaterialien
- Patientenblatt "Psychotherapie und Antidepressiva: Was sind Vor- und Nachteile?" (siehe Patientenblätter)
5.1.3.1 Videobasierte Psychotherapie
Psychotherapien können in begrenztem Umfang auch per Video erfolgen. Die Fernbehandlung setzt allerdings voraus, dass die Sorgfaltspflichten eingehalten werden. Eingangsdiagnostik, Indikationsstellung, Aufklärung und Probatorik müssen im direkten Kontakt erfolgen; Vertraulichkeit und Datenschutz müssen durch geeignete Maßnahmen sichergestellt werden. Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurden Sonderregelungen beschlossen, die Einzelsitzungen grundsätzlich und in begründeten Fällen auch psychotherapeutische Sprechstunden und probatorische Sitzungen per Videotelefonat ohne Grenzen bei der Anzahl der Patient*innen und Leistungsmenge ermöglichen. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der NVL Version 3 war unklar, ob bzw. welche der Neuregelungen möglicherweise eine dauerhafte Geltung erlangen.
Evidenzbeschreibung
Auf eine spezifische Empfehlung und auf eine systematische Recherche nach Evidenz wurde verzichtet, da die Entscheidung, eine Psychotherapie (zum Teil) videobasiert durchzuführen, immer einer individuellen Abwägung der spezifischen Psychophathologie und Lebensumstände der Patient*innen bedarf. In einer selektiv eingebrachten Übersichtsarbeit erwies sich Video-Psychotherapie im Pre-Post-Vergleich grundsätzlich als effektiv; und im direkten Vergleich zu persönlichen Psychotherapien ergaben sich in 8 von 14 RCT keine statistisch signifikanten Unterschiede bezüglich der jeweils gewählten Effektivitätsendpunkte 31927.
Weiterführende Materialien: Videosprechstunden
- KBV: www.kbv.de/html/videosprechstunde.php
- BÄK: Handreichung für Ärztinnen und Ärzte zur Umsetzung von Videosprechstunden in der Praxis 32621
- Bundespsychotherapeutenkammer: Praxis-Info "Videobehandlung" 32620
5.1.3.2 Johanniskraut
Die Evidenzqualität für Johanniskraut ist für die depressive Symptomatik moderat, für andere Endpunkte sehr gering. Den moderaten Effektstärken im Vergleich zu Placebo und der guten Verträglichkeit stehen Bedenken zu schweren Wechselwirkungen gegenüber. Da die Präparate aber von manchen Patient*innen als "natürliches Produkt” eher akzeptiert werden als synthetische Antidepressiva, spricht die Leitliniengruppe bei einer solchen Patientenpräferenz eine offene Empfehlung aus, schränkt diese aber wegen der besseren Standardisierung der Dosierung auf als Arzneimittel zugelassene Präparate ein. Die Leitliniengruppe betont die besondere Bedeutung der Aufklärung der Patient*innen über die unsichere Dosierung frei verkäuflicher Johanniskraut-Präparate sowie über mögliche Wechselwirkungen und deren Konsequenzen.
Evidenzbasis
Die Empfehlung beruht auf der systematischen Recherche zur 2. Auflage und wurde um eine systematische Übersichtsarbeit ergänzt, die in der systematischen Recherche zu ernährungsbasierten Interventionen identifiziert wurde.
Evidenzbeschreibung
In der 2. Auflage der NVL wurde durch eine systematische Recherche ein Cochrane-Review identifiziert, in dem sich für eine Behandlung mit Johanniskraut-Präparaten ein signifikanter Vorteil auf die Ansprechraten gegenüber Placebo ergab (RR 1,48 (95% KI 1,23; 1,77); I2 = 75%; N = 18, n = 3 064). Die Ansprechraten waren nicht signifikant verschieden gegenüber einer Behandlung mit Antidepressiva (RR 1,01 (95% KI 0,93; 1,09); I2 = 17%; N = 17, n = 2 776) 17044.
In einer systematischen Recherche zu ernährungsbasierten Interventionen wurde ein qualitativ hochwertiger Meta-Review identifiziert 30879, der für Johanniskraut neben dem bereits erwähnten Cochrane-Review eine jüngere hochwertige Übersichtsarbeit zitiert. Gegenüber Placebo ergaben sich in der Metaanalyse mittlere Effekte auf die depressive Symptomatik (SMD -0,49 (95% KI -0,74; -0,23); I2 = 89%; N = 16, n = 2 888; moderate Evidenzqualität), aber keine signifikanten Effekte bezüglich Remission (niedrige Evidenzqualität), Ansprechen (moderate Evidenzqualität) und Rückfällen (sehr niedrige Evidenzqualität). Gegenüber Antidepressiva waren weder die Effekte auf die depressive Symptomatik signifikant verschieden (SMD -0,03 (95% KI -0,21, 0,15); I2 = 74%; N = 14 RCT; N = 2 248, moderate Evidenzqualität), noch die Raten an Remissionen (niedrige Evidenzqualität), Ansprechen (moderate Evidenzqualität) oder Rückfällen (sehr niedrige Evidenzqualität). Diese Ergebnisse blieben auch beim direkten Vergleich von Johanniskraut mit speziell SSRI stabil 31123.
Bezüglich der Sicherheit kam es mit Johanniskraut insgesamt zu nicht mehr unerwünschten Effekten gegenüber Placebo (moderate Evidenzqualität), wohingegen im Vergleich zu Antidepressiva weniger unerwünschte Ereignisse auftraten (OR 0,67 (95% KI 0,56, 0,81); N = 11, n = 1 946, moderate Evidenzqualität). Die teils statistisch signifikanten Unterschiede bezüglich bestimmter Nebenwirkungen (sowohl versus Placebo zuungunsten von Johanniskraut als auch versus Antidepressiva zugunsten von Johanniskraut) erscheinen aufgrund mangelhaften Berichtens in den Studien und der geringen Ereigniszahl methodisch nicht belastbar 31123.
Erwägungen, die die Empfehlung begründen
Aufgrund der Enzyminduktion von CYP3A4 können bei der Einnahme von Johanniskraut schwerwiegende Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten auftreten, insbesondere mit manchen HIV-Medikamenten (Protease-Inhibitoren), Zytostatika und Immunsuppressiva (nach Transplantation). Außerdem sind mögliche Interaktionen mit oralen Kontrazeptiva und Antikoagulantien zu beachten. Die Interaktionsproblematik tritt zwar vorwiegend im Zusammenhang mit dem Inhaltsstoff Hyperforin auf (der nicht in allen Präparaten enthalten ist) und ist erst bei einer Einnahme ab ca. 2% (1mg) im Extrakt am Tag klinisch relevant; jedoch betrifft dies in der Regel die als Arzneimittel zugelassenen Präparate.
Die Leitliniengruppe betont die wichtige Unterscheidung zwischen frei verkäuflichen und als Arzneimittel zugelassenen Präparaten: Bei apothekenpflichtigen Präparaten handelt es sich um standardisierte Extrakte. Bei den frei verkäuflichen Präparaten ist hingegen sowohl die Zusammensetzung bezüglich der vermutlich zur Wirkung beitragenden Inhaltsstoffe wie z. B. Hypericin, Flavonoiden und Hyperforin sehr variabel, als auch die jeweils enthaltene Wirkstoffkonzentration. Daraus ergeben sich nicht nur Unsicherheiten bezüglich der Wirkstärke, sondern auch für die Dosierung und für mögliche Wechselwirkungen.
Patientenmaterialien
- Patientenblatt "Hilft Johanniskraut gegen Depressionen?" (siehe Patientenblätter)
5.1.3.3 Benzodiazepine
Empfehlung |
Empfehlungsgrad |
---|---|
5-7 | neu 2022 Benzodiazepine und Z-Substanzen sollen bei leichten depressiven Episoden nicht eingesetzt werden. |
Benzodiazepine sind effektive Medikamente bei Schlafstörungen und Unruhe, jedoch mit raschem Eintritt einer Gewöhnung. Die vorliegende Evidenz belegt keinen dauerhaften Effekt auf depressive Symptome. Bei leichten depressiven Episoden schätzt die Leitliniengruppe das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Benzodiazepinen als ungünstig ein und rät daher von ihrem Einsatz ab. Bei hartnäckigen Schlafstörungen im Zusammenhang mit depressiven Episoden kommen aus Sicht der Leitliniengruppe anstelle von Benzodiazepinen eher Schulungen zu Schlafhygiene sowie Antidepressiva mit sedierender Wirkung (z. B. Mirtazepin) infrage, gegebenenfalls auch niedrigdosierte Antipsychotika (siehe auch S3-Leitlinie Insomnie 28310).
Die Empfehlung berührt nicht die Indikation für Benzodiazepine bei Komorbidität oder in Notfällen.
Für Evidenzbasis, Evidenzbeschreibung, klinische Erwägungen und weiterführende Informationen siehe Kapitel 5.3.1.2 Benzodiazepine.
Patientenmaterialien
- Patientenblatt "Sind Benzodiazepine bei einer Depression ratsam?" (siehe Patientenblätter)
5.2 Behandlung bei mittelgradigen depressiven Episoden
Die Behandlung akuter mittelgradiger depressiver Störungen (Algorithmus siehe Abbildung 12) erfolgt nach einem therapeutischen Gesamtkonzept, das in jedem Fall psychoedukative Inhalte (z. B. Schlafhygiene) umfasst und durch unterstützende Angebote (z. B. Lichttherapie, Sport- und Bewegungstherapie) sowie bei Bedarf durch psychosoziale Interventionen ergänzt wird (Empfehlungen dazu siehe Kapitel 9 Psychosoziale Therapien und unterstützende Maßnahmen).
5.2.1 Psychotherapie und medikamentöse Therapie
Empfehlung |
Empfehlungsgrad |
---|---|
5-8 | modifiziert 2022 Patient*innen mit akuten mittelgradigen depressiven Episoden soll gleichwertig eine Psychotherapie oder eine medikamentöse Therapie angeboten werden. |
Die Evidenzqualität zur Monotherapie bei mittelgradigen depressiven Episoden ist vor dem Hintergrund methodischer Limitationen (siehe Kapitel IV Methodenkritische Aspekte) niedrig bis moderat. Die Ergebnisse der Metanalysen zur Effektivität bezüglich der priorisierten Endpunkte wie auch zu den Effektgrößen sind homogen. Aus der Evidenz lässt sich kein Unterschied in der Effektivität zwischen leichtem und mittlerem Schweregrad ableiten. Die mittleren Effekte auf die depressive Symptomatik sind insgesamt klein. Demgegenüber stehen Bedenken bezüglich Nebenwirkungen und Rebound-Effekten bei medikamentöser Therapie sowie bezüglich der Wirklatenz und potenzieller negativer Effekte von Psychotherapie. Daher sollen beide Optionen gleichwertig angeboten und in gemeinsamer Entscheidungsfindung die individuell besser geeignete ausgewählt werden.
Für eine initiale Kombination von Psychotherapie und medikamentöser Behandlung bei mittlerem Schweregrad ist die Evidenzqualität sehr gering, da die Evidenzbasis insgesamt schmaler ist als für die Monotherapien und schweregradspezifisch nur Subgruppenanalysen vorliegen. Obwohl es Anhaltspunkte für additive Effekte einer Kombinationstherapie gibt, spricht die Leitliniengruppe keine explizite Empfehlung aus, auch aus klinisch-pragmatischen Gründen wie dem Offenhalten dieser Option für schwere depressive Episoden sowie bei Nichtansprechen oder Therapieresistenz, wegen der mangelnden zeitnahen Verfügbarkeit von Psychotherapie sowie aus gesundheitsökonomischen Erwägungen. Nach Aufklärung der Patient*innen über die möglichen Vor- und Nachteile schließt die Leitliniengruppe aber auch eine initiale Kombinationstherapie im individuellen Fall nicht aus.
Für Empfehlungen zur Durchführung der Behandlung, beispielsweise zur Auswahl des psychotherapeutischen Verfahrens bzw. des spezifischen Antidepressivums, zum Monitoring, zur Wirkungsprüfung und zur Beendigung der Behandlung, siehe Kapitel 4.4 Medikamentöse Therapie: Optionen und Prinzipien sowie Kapitel 4.5 Psychotherapie: Optionen und Prinzipien.
Evidenzbasis
Die Empfehlungen beruhen auf der systematischen Recherche zur 2. Auflage und wurden um systematische Übersichtsarbeiten ergänzt, die in der themenübergreifenden systematischen Recherche identifiziert bzw. selektiv eingebracht wurden.
Evidenzbeschreibung
Zu den (schweregradübergreifenden) Effektgrößen von Psychotherapie und medikamentöser Therapie, zur sicherheitsbezogenen Evidenz sowie zu methodischen Limitationen siehe ausführliche Darstellung im Kapitel 5.1.3 Psychotherapie und medikamentöse Therapie. Zusammenfassend wurden bei leichtem bis mittlerem Schweregrad keine Unterschiede in der Effektivität der Verfahren festgestellt; die Effekte bezüglich der depressiven Symptomatik sind nach Adjustierung für verschiedene Verzerrungsrisiken insgesamt klein.
In einer selektiv eingebrachten Übersichtsarbeit waren in der paarweisen Analyse Psychotherapie und medikamentöse Therapie bezüglich aller Effektivitätsendpunkte und in allen Sensitivitätsanalysen gleich effektiv, ebenso in den Subgruppen-Auswertungen zum Ansprechen nach Schweregrad. Dabei ist die Datenbasis und damit die Aussagekraft für den mittleren Schweregrad am größten (Response RR 1,02 (95% KI 0,93; 1,12); I2 = 23%; N = 32). Andere Endpunkte wurden nicht nach Schweregrad analysiert.
Eine hypothesengenerierende Sensitivitätsanalyse ergab Anhaltspunkte, dass eine Kombination beider Verfahren bei "moderate depression" nicht effektiver war als Psychotherapie allein (Response RR 1,14 (95% KI 0,99; 1,30); I2 = 0%; N = 11), aber effektiver als eine alleinige medikamentöse Behandlung (RR 1,28 (95% KI 1,10; 1,47); I2 = 34; N = 18). Der schweregradübergreifende Effekt auf die depressive Symptomatik war mit Kombinationsbehandlung signifikant größer im Vergleich zu einer alleinigen medikamentösen Therapie (SMD 0,37 (95% KI 0,23; 0,53); I2 = 68%; N = 41); im Vergleich zu einer alleinigen Psychotherapie ergaben sich keine signifikanten Abweichungen. Unter Kombinationsbehandlung gab es schweregradübergreifend weniger Abbrüche als unter alleiniger medikamentöse Therapie (RR 1,29 (95% KI 1,13; 1,47); N = 41), wohingegen es im Vergleich zu einer alleinigen Psychotherapie keine signifikanten Unterschiede gab (RR 1,08 (95% KI 0,92; 1,28); N = 18). Die Aussagekraft ist jedoch sehr eingeschränkt, da das Verzerrungsrisiko aufgrund der unklaren Konzeption der Vergleichsintervention (Medikamentenplacebo vs. ggf. keine Sham-Psychotherapie) nicht beurteilt werden kann 31099.
Unterstützt werden diese Ergebnisse durch eine in der themenübergreifenden systematischen Recherche identifizierte Übersichtsarbeit. In der gepoolten Analyse (N = 7, n = 482) ergab sich ein Vorteil bezüglich der Symptomschwere für die Kombination gegenüber einer medikamentösen Monotherapie sowohl direkt nach Ende einer psychodynamischen Psychotherapie (10–26 Wochen; d = 0,26 SE 0,10; kleiner Effekt), also auch im Follow-up (6–12 Monate, d = 0,50 SE 0,10; moderater Effekt). Limitationen ergeben sich aus der eher geringen Datenbasis, der hohen PICO-Heterogenität und dem Verzerrungsrisiko durch nicht-adäquate Verblindung 31124. Beide Übersichtsarbeiten treffen keine Aussage zur Vorbehandlung der Patient*innen, so dass unklar ist, ob es sich um eine initiale oder um eine Strategie bei Nichtansprechen einer medikamentösen Therapie handelt.
Für den Vergleich Psychotherapie versus Psychotherapie plus medikamentöse Therapie wurde keine Evidenz identifiziert.
Klinische Erwägungen, die die Empfehlung begründen
Siehe ausführliche (schweregradunabhängige) Darstellung im Kapitel 5.1.3 Psychotherapie und medikamentöse Therapie.
Bei mittelgradigen depressiven Episoden kommt eine initiale Kombination von medikamentöser Behandlung und Psychotherapie aus Sicht der Leitliniengruppe aufgrund individueller Erwägungen infrage, beispielsweise die Kombination einer Psychotherapie mit sedierenden Antidepressiva bei Schlafstörungen.
Patientenmaterialien
- Patientenblatt "Psychotherapie und Antidepressiva: Was sind Vor- und Nachteile?" (siehe Patientenblätter)
5.2.1.1 Johanniskraut
Rationale, Evidenzbasis, Evidenzbeschreibung und klinische Erwägungen siehe Kapitel 5.1.3.2 Johanniskraut
Der explizite Hinweis auf den Zulassungsstatus wurde eingefügt, weil nur sehr wenige Präparate nicht nur bei leichten, sondern auch bei mittelschweren depressiven Störungen verordnungsfähig sind.
Patientenmaterialien
- Patientenblatt "Hilft Johanniskraut gegen Depressionen?" (siehe Patientenblätter)
5.2.1.2 Benzodiazepine
Benzodiazepine sind effektive Medikamente bei Schlafstörungen und Unruhe, jedoch mit raschem Eintritt einer Gewöhnung. Die vorliegende Evidenz belegt keinen dauerhaften Effekt auf depressive Symptome. Bei mittelschweren depressiven Episoden erscheint das Nutzen-Risiko-Verhältnis im ambulanten, vor allem hausärztlichen Bereich als eher ungünstig, da Benzodiazepine tendenziell zu häufig und zu lange verschrieben werden. Im stationären Bereich ist diese Gefahr auch wegen der engmaschigeren Überwachung der Nebenwirkungen und der Dauer der Einnahme weniger ausgeprägt, wobei hier die Notwendigkeit besteht, die Patient*innen vor der Entlassung auf die Notwendigkeit eines baldigen Absetzens hinzuweisen. Die Leitliniengruppe spricht daher eine abgeschwächt negative Empfehlung aus. Bei hartnäckigen Schlafstörungen im Zusammenhang mit depressiven Episoden kommen aus Sicht der Leitliniengruppe anstelle von Benzodiazepinen eher Schulungen zu Schlafhygiene sowie Antidepressiva mit sedierender Wirkung (z. B. Mirtazepin) infrage, gegebenenfalls auch niedrigdosierte Antipsychotika (siehe auch S3-Leitlinie Insomnie 28310).
Die Empfehlung berührt nicht die Indikation für Benzodiazepine bei Komorbidität oder in Notfällen.
Evidenzbasis, Evidenzbeschreibung, klinische Erwägungen und weiterführende Informationen siehe Kapitel 5.3.1.2 Benzodiazepine.
Patientenmaterialien
- Patientenblatt "Sind Benzodiazepine bei einer Depression ratsam?" (siehe Patientenblätter)
5.2.2 Internet- und mobilbasierte Interventionen
Aus Sicht der Leitliniengruppe sind gesprächsbasierte niedrigintensive Interventionen als Monotherapie keine Option bei mittelschweren depressiven Episoden. Eine Ausnahme bilden dabei Internet- oder mobilbasierte Interventionen (IMI), die zwar vom Zugang her vergleichsweise niedrigschwellig, aber nicht niedrigintensiv sind.
Die Leitliniengruppe bewertet die Evidenzqualität für den Einsatz von therapeutisch begleiteten Internet- und mobilbasierten Interventionen (IMI) bei depressiven Störungen aufgrund der breiten Datenbasis und der konsistenten Ergebnisse insgesamt als moderat. Einschränkungen ergeben sich aufgrund des häufig hohen Verzerrungsrisikos (keine Verblindung möglich), der hohen PICO-Heterogenität, teils weiter Konfidenzintervalle und einer häufig hohen Abbruchrate. Die Evidenz wird unterstützt von klinischen Erwägungen zu den allgemeinen Wirkfaktoren wie eine erhöhte Selbstwirksamkeit und einer guten Integrierbarkeit in den Alltag, so dass die Leitliniengruppe für den Fall der Ablehnung von Antidepressiva und Psychotherapie eine starke Empfehlung ausspricht.
Für die Anwendung von IMI zusätzlich zu einer medikamentösen oder psychotherapeutischen Behandlung ("blended care") ist die Evidenzqualität aufgrund der kleinen Datenbasis geringer, so dass die Leitliniengruppe eine offene Empfehlung ausspricht.
IMI stellen aus Sicht der Leitliniengruppe eine niedrigschwellige, aber nicht niedrigintensive Option dar. Sie sieht ihre Indikation bei mittelgradigen depressiven Störungen als ersten Schritt im Sinne eines Stepped-care-Ansatzes oder als zusätzliche Option zur Unterstützung einer medikamentösen oder psychotherapeutischen Behandlung. Dabei ist die Empfehlung bewusst als Angebot formuliert, um auszudrücken, dass IMI nicht notwendigerweise in Anspruch genommen werden müssen, bevor eine andere Behandlung begonnen wird.
Aus Sicht der Leitliniengruppe ist es sehr wichtig, dass IMI grundsätzlich ärztlich bzw. psychotherapeutisch verordnet und begleitet werden, inklusive regelmäßigem Monitoring von Adhärenz und Wirksamkeit (siehe Empfehlungen im Kapitel 4.3 Internet- und mobilbasierte Interventionen: Optionen und Prinzipien).
Evidenzbasis
Zu Internet- und mobilbasierten Interventionen erfolgte eine systematische Recherche nach aggregierter Evidenz sowie nach Primärstudien aus dem deutschen Kontext.
Evidenzbeschreibung
Es wurde keine schweregradspezifische Evidenz identifiziert. Zur ausführlichen Beschreibung der Evidenz für IMI und den Limitationen siehe Kapitel 5.1.2 Internet- und mobilbasierte Interventionen.
Für IMI als zusätzliche Behandlung ("blended treatment") wurden im systematischen Review von Köhnen et al. (2021) 6 RCTs identifiziert, die IMI mit Psychotherapie kombinierten, sowie 2 RCT zur Kombination mit medikamentöser Therapie. In der Metaanalyse wurde jedoch nicht nach Art der Kombination unterschieden: In den Nichtunterlegenheitsstudien (N = 3) zeigte sich kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Behandlungsgruppen; in den Überlegenheitsstudien (N = 9) ergaben sich signifikante zusätzliche positive Effekte bezüglich der depressiven Symptomatik (SMD -0,27 (95% KI -0,48; -0,05); I² = 53%) direkt nach Abschluss der Behandlung wie auch nach 4–15 Monaten Nachbeobachtung (SMD -0,28 (95% KI -0,56; -0,01); I² = 42%) 31090.
Bei der systematischen Recherche nach Primärstudien aus dem deutschen Kontext wurden zusätzlich 2 RCT zu kombinierten Ansätzen identifiziert: In einem RCT (n = 98) erhielten Patient*innen eine ambulante Verhaltenstherapie im Direktkontakt und zusätzlich Zugang zu einer unbegleiteten IMI. Nach 6 Monaten ergab sich mit dem BDI-II ein signifikanter, moderater zusätzlicher Effekt (d = 0,51 (95% KI 0,11; 0,91)); mit dem PHQ-9 wurde keine statistische Signifikanz erreicht (PHQ-9 d = 0,27 (95% KI -0,13; 0,66)). Das Verzerrungsrisiko wird insgesamt als hoch eingeschätzt (z. B. unverblindete Ergebnisevaluation durch die Patient*innen; hohe Abbruchrate) 30754. Ein zweites RCT untersuchte eine unbegleitete IMI als Add-on zu einer multimodalen stationären Intervention und als Monotherapie-Fortführung nach der Entlassung. Am Ende der stationären Kombinationsbehandlung ergaben sich moderate zusätzliche Effekte (BDI-II d = 0,48; PHQ d = 0,40), die auch am Ende Monotherapie-IMI nach 6 Monaten persistierten (BDI-II d = 0,58; PHQ-9 d = 0,49; 95% KI nicht berichtet). Das Verzerrungsrisiko wird insgesamt als hoch eingeschätzt (z. B. unverblindete Ergebnisevaluation durch die Patient*innen, hohe Abbruchrate in ambulanter Phase) 30755, 30753.
Klinische und versorgungspraktische Erwägungen, die die Empfehlung begründen
Die Leitliniengruppe betont, dass die mangelnde reale Verfügbarkeit von Psychotherapie kein Grund sein dürfe, internetbasierte Interventionen alternativ oder als Wartezeitüberbrückung zu empfehlen. Stattdessen müssten mehr Kapazitäten für eine zeitnahe Verfügbarkeit evidenzbasierter Verfahren geschaffen werden.
Bei der Anwendung von IMI zusätzlich zu einer Psychotherapie ist im Rahmen des therapeutischen Gesamtkonzepts zu prüfen, ob diese geeignet sind, das jeweilige spezifische psychotherapeutische Verfahren zu ergänzen. Für psychodynamische Verfahren wurden keine Studien zum "blended treatment" identifiziert.
5.3 Behandlung bei schweren depressiven Episoden
Die Behandlung akuter schwerer depressiver Störungen (Algorithmus siehe Abbildung 12) erfolgt nach einem therapeutischen Gesamtkonzept, das in jedem Fall psychoedukative Inhalte (z. B. Schlafhygiene) umfasst und durch unterstützende Angebote (z. B. Lichttherapie, Sport- und Bewegungstherapie, Wachtherapie) sowie bei Bedarf durch psychosoziale Interventionen ergänzt wird (Empfehlungen dazu siehe Kapitel 9 Psychosoziale Therapien und unterstützende Maßnahmen).
5.3.1 Psychotherapie und medikamentöse Therapie
Die Evidenzqualität für eine initiale Kombination von Psychotherapie und medikamentöser Behandlung speziell bei schweren depressiven Episoden ist gering, da schweregradspezifisch nur Subgruppenanalysen vorliegen. Die Ergebnisse schweregradübergreifender Metanalysen zur Effektivität bezüglich der priorisierten Endpunkte weisen jedoch konsistent auf Vorteile hin. Zudem sprechen klinische Erfahrungen dafür, dass einige Patient*innen mittels einer medikamentösen Behandlung einer Psychotherapie erst zugänglich werden. Weiterhin kann durch eine medikamentöse Therapie die Zeit bis zum Eintritt der Effekte einer Psychotherapie überbrückt werden. In der Gesamtschau und in Anbetracht des hohen Handlungsdrucks stellt die Kombinationsbehandlung aus Sicht der Leitliniengruppe die beste Option in dieser Situation dar, so dass eine starke Empfehlung ausgesprochen wird.
Die Evidenzqualität sowohl für eine Antidepressiva-Monotherapie als auch für eine alleinige Psychotherapie bei schweren depressiven Episoden ist sehr niedrig. Bezüglich einer medikamentösen Therapie ist aufgrund der inkonklusiven Ergebnisse der Übersichtsarbeiten unklar, ob die zu erwartenden Effekte größer sind als bei minderschweren Depressionen und ob sie sich überhaupt auf Patient*innen mit einer akuten schweren Episode übertragen lassen. Für die Effektgrößen einer alleinigen Psychotherapie wurde keine direkte Evidenz identifiziert; aus dem Vergleich mit medikamentösen Therapien lassen sich kleinere Effekte ableiten. Da aber bei Ablehnung einer Kombinationsbehandlung durch die Patient*innen dennoch Handlungsbedarf besteht, spricht die Leitliniengruppe für die Monotherapien dennoch eine starke Empfehlung aus.
Für Empfehlungen durch Durchführung der Behandlung, beispielsweise zur Auswahl des psychotherapeutischen Verfahrens bzw. des spezifischen Antidepressivums, zum Monitoring, zur Wirkungsprüfung und zur Beendigung der Behandlung, siehe Kapitel 4.4 Medikamentöse Therapie: Optionen und Prinzipien sowie Kapitel 4.5 Psychotherapie: Optionen und Prinzipien.
Evidenzbasis
Die Empfehlung beruht auf der systematischen Recherche zur 2. Auflage und wurde um systematische Übersichtsarbeiten ergänzt, die in der themenübergreifenden systematischen Recherche identifiziert bzw. selektiv eingebracht wurden.
Evidenzbeschreibung
Kombinationstherapie
Die Empfehlungen der 2. Auflage der NVL Unipolare Depression zur Kombinationstherapie stützten sich auf mehrere Metanalysen, die statistisch signifikante additive Effekte einer Kombinationstherapie gegenüber einer alleinigen medikamentösen Behandlung und einer alleinigen Psychotherapie ergaben: Beispielsweise verbesserten sich in einer Übersichtsarbeit (N = 16, n = 1 842) im Vergleich zu einer medikamentösen Monotherapie mit der Kombination die Ansprechraten (OR 1,86 (95% KI 1,38; 2,52)); die Rate an Nichtansprechen und die Therapieabbrüche waren vergleichbar. Dauerte die Behandlung länger als 12 Wochen, vergrößerten sich die Effekte (OR, 2,21 (95% KI 1,22; 4,03)) und die Rate von Abbrüchen oder Nichtansprechen war signifikant kleiner als unter Monotherapie (OR 0,59 (95% KI 0,39; 0,88)) 10307.
In einer in der themenübergreifenden systematischen Recherche identifizierten Metaanalyse (N = 7, n = 482) ergab sich ein Vorteil bezüglich der Symptomschwere für die Kombination gegenüber einer medikamentösen Monotherapie sowohl direkt nach Ende einer psychodynamischen Psychotherapie (10–26 Wochen; d = 0,26 SE 0,10; kleiner Effekt), also auch im weiteren Verlauf (6–12 Monate, d = 0,50 SE 0,10; moderater Effekt) 31124.
Eine hypothesengenerierende Sensitivitätsanalyse ergab Anhaltspunkte, dass eine Kombination bei schweren Depressionen nicht effektiver war als Psychotherapie allein (Response RR 1,35 (95% KI 0,85; 2,17); I2 = 65%; N = 2), aber effektiver als eine medikamentöse Monotherapie (RR 1,45 (95% KI 1,14; 1,82); I2 = 35; N = 6). Andere Endpunkte wurden nicht nach Schweregrad analysiert. Schweregradübergreifend kam es unter Kombinationsbehandlung zu weniger Abbrüchen als unter alleiniger medikamentöse Therapie (RR 1,29 (95% KI 1,13; 1,47); N = 41), wohingegen es im Vergleich zu einer alleinigen Psychotherapie keine signifikanten Unterschiede gab (RR 1,08 (95% KI 0,92; 1,28); N = 18). Die Aussagekraft ist jedoch sehr eingeschränkt, da das Verzerrungsrisiko aufgrund der unklaren Konzeption der Vergleichsintervention (Medikamentenplacebo vs. ggf. keine Sham-Psychotherapie) nicht beurteilt werden kann. 31099.
Die in die 3 Reviews eingeschlossenen Studien waren bezüglich der PICO-Kriterien sehr heterogen, hatten häufig ein hohes Verzerrungsrisiko (Nicht-Verblindung), basierten auf nur wenigen Studien mit schwerer Symptomatik und umfassten auch Patient*innen mit chronischen und therapieresistenten Depressionen, so dass die Aussagekraft und die Übertragbarkeit auf akute schwere depressive Episoden limitiert sind.
Alleinige medikamentöse Therapie
Zu den (schweregradübergreifenden) Effektgrößen einer medikamentösen Therapie, zur sicherheitsbezogenen Evidenz sowie zu methodischen Limitationen siehe ausführliche Darstellung im Kapitel 5.1.3 Psychotherapie und medikamentöse Therapie.
Die 2. Auflage der NVL Unipolare Depression ging von einem etwas größeren Wirkunterschied zwischen Antidepressiva und Placebo bei schweren Depression aus und zitierte dafür mehrere Übersichtsarbeiten 16010, 31105, 31106. In einer in der themenübergreifenden Recherche identifizierten Metanalyse auf Individualdatenbasis zu neueren Antidepressiva war der Schweregrad als Kovariate ohne Einfluss. Der Effekt auf die depressive Symptomatik war insgesamt klein (SMD 0,2 bis 0,3) 31102. Eine qualitativ hochwertige Netzwerk-Metaanalyse von NICE 2018 fand für schwere Formen für SSRI einen signifikanten kleinen Effekt bezüglich der depressiven Symptomatik (n = 4 279; SMD -0,28 95% CrI -0,52; -0,04) im Vergleich zu Placebo; bei TZA war die Signifikanz grenzwertig (n = 803; SMD -0,43 (95% CrI -0,9; 0,0)); alle weiteren Antidepressiva hatten keinen signifikanten Effekt. Die Übertragbarkeit dieser Ergebnisse auf die Schweregrade nach ICD-Definition ist erschwert, da die Arbeit nur zwischen leichteren und schwereren Formen unterschied (kein mittlerer Schweregrad definiert) 29705.
Alleinige Psychotherapie
Zu den (schweregradübergreifenden) Effektgrößen von Psychotherapie und medikamentöser Therapie, zur sicherheitsbezogenen Evidenz sowie zu methodischen Limitationen siehe ausführliche Darstellung im Kapitel 5.1.3 Psychotherapie und medikamentöse Therapie.
In der 2. Auflage der Leitlinie wurden keine Übersichtsarbeiten zur Effektivität einer alleinigen Psychotherapie gegenüber Placebo bei schwerer Symptomatik angeführt. Eine in der themenübergreifenden Recherche identifizierte Übersichtsarbeit auf Individualdatenbasis untersuchte die schweregradspezifische Effektivität von Verhaltenstherapie im Vergleich zu Medikamenten-Placebo. In der Metaanalyse (N = 5, n = 509) ergaben sich keine vom Schweregrad abhängigen Unterschiede bezüglich der depressiven Symptomatik; spezifische Aussagen zu Patient*innen mit schwerer Symptomatik wurden nicht getroffen 31100.
Vergleich zwischen alleiniger medikamentöser Behandlung und Psychotherapie
Zum direkten Vergleich einer medikamentösen oder verhaltenstherapeutischen Behandlung oder deren Kombination speziell bei schweren Depressionen wurde eine systematische Übersichtsarbeit selektiv eingebracht. Eine hypothesengenerierende Sensitivitätsanalyse ergab Anhaltspunkte, dass beide Verfahren gleich effektiv sind (RR 1,18 (95% KI 0,70; 1,96); I2 = 54%; N = 4), wobei die Aussagekraft aufgrund der wenigen dazu eingeschlossenen Studien limitiert ist. Andere Endpunkte wurden nicht nach Schweregrad analysiert 31099.
Klinische Erwägungen, die die Empfehlungen begründen
Siehe ausführliche (schweregradunabhängige) Darstellung im Kapitel 5.1.3 Psychotherapie und medikamentöse Therapie.
Bei schweren depressiven Episoden fällt die Entscheidung für eine Monotherapie aus Erfahrung der Leitliniengruppe meist infolge der Patientenpräferenz. Patient*innen mit schwerer Symptomatik, stark agitierte oder kognitiv eingeschränkte Patient*innen sind einer psychotherapeutischen Behandlung mitunter nicht zugänglich. Bei einer Entscheidung für eine alleinige Psychotherapie ist außerdem zu berücksichtigen, dass die Wirklatenz im Vergleich zu einer medikamentösen oder Kombinationstherapie erhöht sein kann.
5.3.1.1 Esketamin intranasal
Esketamin ist außerhalb von Notfallsituationen oder Therapieresistenz nicht für die Behandlung unipolarer Depressionen zugelassen (off-label). Für Empfehlungen zur Anwendung bei akuter Suizidalität siehe Kapitel 12.3.5 Esketamin intranasal; für Empfehlungen zur Anwendung bei Therapieresistenz siehe Kapitel 7.3.2 Esketamin intranasal.
5.3.1.2 Benzodiazepine
Benzodiazepine sind effektive Medikamente bei Schlafstörungen und Unruhe, jedoch mit raschem Eintritt einer Gewöhnung. Die vorliegende Evidenz belegt keinen dauerhaften Effekt auf depressive Symptome. Bei schweren depressiven Episoden mit Angst, Unruhe oder Agitation kann aus Sicht der Leitliniengruppe eine Zusatzmedikation mit einem Benzodiazepin sinnvoll sein, um bei hohem Behandlungsdruck die Wirklatenz von Antidepressiva und/oder Psychotherapie zu überbrücken. Diesen Vorteilen stehen jedoch eine mögliche durch Enthemmung verstärkte Suizidalität und das Risiko einer Abhängigkeitsentwicklung entgegen, wobei diese Gefahr wegen der engmaschigeren Überwachungsmöglichkeiten im stationären Bereich weniger ausgeprägt ist. Unter Abwägung von Nutzen und Risiken spricht die Leitliniengruppe eine offene Empfehlung aus. Bei hartnäckigen Schlafstörungen im Zusammenhang mit depressiven Episoden kommen aus Sicht der Leitliniengruppe anstelle von Benzodiazepinen eher Schulungen zu Schlafhygiene sowie Antidepressiva mit sedierender Wirkung (z. B. Mirtazepin) infrage, gegebenenfalls auch niedrigdosierte Antipsychotika (siehe auch S3-Leitlinie Insomnie 28310).
Die Empfehlung berührt nicht die Indikation für Benzodiazepine bei Komorbidität oder in Notfällen.
Evidenzbasis
Die Empfehlung basiert auf einer systematischen themenübergreifenden Recherche, zusätzlich selektiv eingebrachter Literatur und klinischen Erwägungen.
Evidenzbeschreibung
Ein in der themenübergreifenden Recherche identifizierter hochwertiger systematischer Review verglich eine Benzodiazepin-Antidepressiva-Kombination gegen eine Antidepressiva-Monotherapie. Dabei ergab sich ein signifikanter, aber kleiner zusätzlicher Effekt der Kombination bezüglich der Besserung der depressiven Symptomatik während der ersten vier Wochen der Behandlung (SMD -0,25 (95% KI -0,46; -0,03); N = 10, n = 598; Evidenzqualität moderat). Für spätere Zeitpunkte zeigte sich kein Vorteil der zusätzlichen Gabe eines Benzodiazepins 29458.
Benzodiazepine als Monotherapie zur Depressionsbehandlung waren Gegenstand eines selektiv eingebrachten systematischen Reviews 31104. In der Metaanalyse von 22 RCT zeigte sich bezüglich der Response weder ein Vorteil gegenüber Placebo noch gegenüber einer Antidepressiva-Monotherapie. In beide Übersichtsarbeiten waren nur ältere RCT eingeschossen (≤ 1 992), in denen als antidepressive Therapie fast ausschließlich TZA eingesetzt wurden.
Erwägungen, die die Empfehlung begründen
Benzodiazepine bergen Risiken wie Sedierung, psychomotorische und kognitive Beeinträchtigung sowie Sturzgefahr. Insbesondere Lorazepam kann auch enthemmend wirken, was zu verstärkter Suizidalität führen kann. Daher ist der Einsatz bei schwerer Symptomatik und besonders bei akuter Suizidalität im ambulanten Setting ohne die Möglichkeit eines engmaschigen Monitorings nicht empfehlenswert. Beim Absetzen können Absetzsymptome auftreten, und Benzodiazepine sind mit einer hohen Gefahr der Entwicklung einer Abhängigkeit verbunden, die bei Verordnung der preiswerten Medikamente per Privatrezept lange unerkannt bleiben kann. Es ist somit aus Sicht der Leitliniengruppe wichtig, dass die Indikation individuell geprüft und die Behandlung zeitlich befristet wird. Bei Patient*innen mit Suchterkrankungen in der Anamnese sind Benzodiazepine auch bei langjähriger Abstinenz in der Regel kontraindiziert. Die Relevanz der unerwünschten Effekte und damit die Nutzen-Risiken-Abwägung ist abhängig davon, ob es sich um eine Notfallsituation handelt oder nicht.
In der Versorgung nehmen die Leitlinienmitglieder sowohl Unter- als auch Überversorgung wahr: Zum einen erfolge ein übermäßiger nicht-indizierter und/oder zu langfristiger Einsatz, zum anderen würden bei bestehender Indikation aus Vorsicht Benzodiazepine nicht eingesetzt.
Weiterführende Informationen zum schädlichen Gebrauch von Benzodiazepinen
Für Empfehlungen zum Ausschleichen von Benzodiazepinen sowie zur Diagnostik eines schädlichen Gebrauchs siehe S3-Leitlinie "Medikamentenbezogene Störungen" 31856.
Patientenmaterialien
- Patientenblatt "Sind Benzodiazepine bei einer Depression ratsam?" (siehe Patientenblätter)
5.3.1.3 Antipsychotika
Für Antipsychotika besteht in der Erstbehandlung einer akuten depressiven Episode keine Indikation, außer bei psychotischen Merkmalen (siehe Kapitel 5.4 Psychotische Depression) oder in Notfall-Situationen (siehe Kapitel 12 Management bei Suizidalität und anderen Notfallsituationen). Zum Stellenwert von Antipsychotika bei Nichtansprechen der Erstbehandlung siehe Kapitel 7.1.3 Augmentation mit Antipsychotika, Lithium oder anderen Substanzen.
5.3.1.4 Experimentelle medikamentöse Ansätze
Siehe Empfehlung im Kapitel 7.3.4 Experimentelle medikamentöse Ansätze.
5.3.2 Internet- und mobilbasierte Interventionen als Add-on
Die Leitliniengruppe bewertet die Evidenzqualität für den zusätzlichen Einsatz von therapeutisch begleiteten IMI ("blended care") bei schweren depressiven Störungen als sehr niedrig. Klinische Erwägungen zu den allgemeinen Wirkfaktoren wie erhöhte Selbstwirksamkeit und gute Integrierbarkeit in den Alltag machen zusätzliche positive Effekte aber plausibel, so dass die Leitliniengruppe eine offene Empfehlung ausspricht.
Für Empfehlungen zu Verordnung, Begleitung und Monitoring siehe Empfehlungen im Kapitel 4.3 Internet- und mobilbasierte Interventionen: Optionen und Prinzipien.
Evidenzbasis
Es erfolgte eine systematische Recherche nach aggregierter Evidenz sowie nach Primärstudien aus dem deutschen Kontext.
Evidenzbeschreibung
Zu ausführlichen Beschreibungen der Evidenz für IMI und den Limitationen siehe Kapitel 5.1.2 Internet- und mobilbasierte Interventionen. Es wurde keine schweregradspezifische Evidenz identifiziert. In den Studien waren suizidale Patient*innen größtenteils, Patient*innen mit hohem Schweregrad teilweise ausgeschlossen.
5.3.3 Neurostimulatorische Verfahren
Neurostimulatorische Verfahren kommen bei akuten schweren Episoden zwar grundsätzlich infrage, insbesondere wenn es sich um rezidivierende depressive Störungen handelt. In den Studien wurden zumeist gemischte Populationen (rezidivierende und therapieresistente Depressionen) eingeschlossen. In der Praxis werden neurostimulatorische Verfahren jedoch in der Regel für die therapieresistente Situation (siehe Kapitel 7.3.5 Neurostimulatorische Verfahren) aufgespart, um dann noch eine neue Behandlungsoption anbieten zu können. Dieses Vorgehen wird auch durch Versorgungsaspekte (mangelnde regionale Verfügbarkeit) sowie gesundheitsökonomische Überlegungen (hohe Personalkosten) unterstützt.
5.4 Psychotische Depression
Patient*innen mit psychotischen Merkmalen sind in den großen Interventionsstudien meist ausgeschlossen, daher ist die spezifische Evidenzqualität sehr niedrig. Aus klinischer Sicht handelt es sich bei Depressionen mit psychotischen Merkmalen meist um schwere Formen, so dass die Leitliniengruppe analog dazu eine kombinierte medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung empfiehlt. Aufgrund des schnelleren Wirkeintritts und weil eine Psychotherapie in der Akutsituation häufig gar nicht möglich ist, steht die medikamentöse Behandlung zu Beginn im Vordergrund.
Die Evidenzqualität für eine zusätzliche Behandlung mit Antipsychotika ist aufgrund der schmalen Datenbasis insbesondere für neuere Medikamente sehr niedrig. Zur Effektivität spezieller Kombinationen können keine validen Aussagen getroffen werden. Jedoch erscheint eine spezifische antidepressive und eine spezifische antipsychotische Behandlung grundsätzlich als sinnvolle Option. Aufgrund der inkonklusiven Evidenzlage und der widersprüchlichen klinischen Erfahrungen spricht die Leitliniengruppe eine abgeschwächte Empfehlung aus.
Zu Benzodiazepinen und Antipsychotika siehe auch Kapitel 12 Management bei Suizidalität und anderen Notfallsituationen.
Zur Erhaltungstherapie bei psychotischer Depression siehe Kapitel 6.1 Medikamentöse Erhaltungstherapie.
Evidenzbasis
Die Empfehlungen beruhen auf der systematischen Recherche zur 2. Auflage und wurden um systematische Übersichtsarbeiten ergänzt, die in der themenübergreifenden systematischen Recherche identifiziert bzw. selektiv eingebracht wurden. Für die Empfehlung zur kombinierten medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlung wurde die Evidenz für schwere Formen extrapoliert (vgl. Kapitel 5.3 Behandlung bei schweren depressiven Episoden).
Evidenzbeschreibung
In den zur Begründung der Empfehlungen für die akute depressive Episode herangezogenen Übersichtsarbeiten fanden sich keine Subgruppenanalysen zu Depressionen mit psychotischen Merkmalen, weder für eine alleinige medikamentöse oder psychotherapeutische Behandlung, noch für deren Kombination. Häufig waren psychotische Merkmale explizites Ausschlusskriterium der eingeschlossenen Studien und/oder der Übersichtsarbeiten selbst.
Ein in der themenübergreifenden Recherche identifizierter Cochrane-Review zur medikamentösen Behandlung psychotischer Depressionen fand keine positive Evidenz für eine Monotherapie mit Antidepressiva oder Antipsychotika im Vergleich zu Placebo. Für die Kombination beider Ansätze ergab die Metaanalyse eine höhere Wirksamkeit gegenüber den Monotherapien 29431. Ein Update dieses Cochrane-Reviews fand keine neue Evidenz, so dass die gerechneten Metaanalysen identisch sind: Bezüglich der Ansprechrate ergab sich gegenüber Placebo kein Vorteil einer Monotherapie mit Antidepressiva (RR 8,40 (95% KI 0,50; 142,27); N = 1, n = 27; sehr niedrige Evidenzqualität) oder Antipsychotika (RR 1,13 (95% KI 0,74; 1,73); N = 2, n = 201; sehr niedrige Evidenzqualität). Die Kombination beider Ansätze war effektiver sowohl gegenüber Placebo (RR 1,86 (95% KI 1,23; 2,82); N = 2, n = 148; sehr niedrige Evidenzqualität), also auch gegenüber den Monotherapien (vs. Antidepressiva RR 1,42 (95% KI 1,11; 1,80); N = 5, n = 245; niedrige Evidenzqualität; vs. Antipsychotika RR 1,83 (95% KI 1,40; 2,38); N = 4, n = 447, niedrige Evidenzqualität) 32008. Die meisten eingeschlossenen Studien waren sehr klein. Bei den Medikamenten handelte es sich um verschiedene Antipsychotika der ersten und der zweiten Generation; auch die Antidepressiva waren heterogen. Die Signifikanz der gepoolten Ergebnisse für die Kombination wurde maßgeblich von einer Studie getriggert, in der die Kombination Venlafaxin plus Quetiapin untersucht worden war, so dass aus Sicht der Leitliniengruppe nicht klar zu unterscheiden ist, ob die Effekte auf die antipsychotische oder die antidepressive Wirkung zurückzuführen sind. Im dritten Arm dieser Studie mit Imipramin wurden keine signifikanten Effekte der Kombination vs. Venlafaxin erzielt. Nebenwirkungen wurden bis auf allgemeine Dropout-Raten nicht untersucht 29431.
Ähnliche Ergebnisse zeigte die in der 2. Auflage zitierte Metaanalyse von Farahani et al. 31125, die weitgehend auf denselben Studien basierte, ebenso wie der in der themenübergreifenden Recherche identifizierte systematische Review in der NICE-Guideline 29705. NICE bewertet die Evidenz für den Vergleich Kombinations- vs. Monotherapie zwar als besser verglichen mit anderen Optionen in diesem Setting, betont jedoch ebenfalls die Limitationen der Datenlage und spricht eine Forschungsempfehlung aus.
Klinische Erwägungen, die die Empfehlung begründen
Da Depressionen mit psychotischen Merkmalen mit einer besondere Schwere und Häufigkeit der Episoden, einer erhöhten Suizidalität sowie teils auch mit Fremdgefährdung assoziiert sind, ist starker Handlungsbedarf gegeben. Aufgrund des schnellen Wirkeintritts ist daher eine medikamentöse Therapie indiziert. Außerdem ist eine akute Psychose meist mit einer so umfassenden Beeinträchtigung verbunden, dass gar keine Kommunikation möglich ist, so dass eine (alleinige) Psychotherapie in dieser Situation keine adäquate Behandlung darstellt.
Die Leitliniengruppe diskutierte kontrovers über die klinischen Erfahrungen mit der Kombination von Antidepressiva und Antipsychotika. Während der größere Teil der Expert*innen über positive Effekte berichtete, wurden diese von anderen Expert*innen nicht bestätigt.
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Flyer: Was ist wichtig? Was ist neu?
Die Kernaussagen der NVL für Ärztinnen und Ärzte zusammengefasst.
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Foliensatz
Für Präsentationen zu den NVL bei Kongressen.
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Unipolare Depression – Algorithmen
Mit aktiven Verweisen direkt in die Leitlinie.
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Depression - Schwangerschaft und Geburt
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Langfassung
NVL Unipolare Depression, Version 3.2, 2022
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Kurzfassung
NVL Unipolare Depression, Version 3.2, 2022
Das Archiv enthält abgelaufene, zurückgezogene Dokumente zur Nationalen Versorgungsleitlinie Unipolare Depression.
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Langfassung, Version 3.1
ersetzt durch Version 3.2, Juli 2023
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Kurzfassung, Version 3.1
ersetzt durch Version 3.2, Juli 2023
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Langfassung, Version 3.0
ersetzt durch Version 3.1, Januar 2023
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Kurzfassung, Version 3.0
ersetzt durch Version 3.1, Januar 2023
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Langfassung, Version 3, Konsultationsfassung
ersetzt durch Version 3.0, September 2022
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Langfassung, 2. Auflage, Version 5
ersetzt durch Version 3.0, September 2022
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Langfassung, 2. Auflage, Version 4
ersetzt durch Version 5, März 2017. Begründung: redaktionelle Änderungen
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Langfassung, 2. Auflage, Version 3
ersetzt durch Version 4, Oktober 2016. Begründung: redaktionelle Änderungen
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Langfassung, 2. Auflage, Version 2
ersetzt durch Version 3, März 2016. Begründung: redaktionelle Änderungen
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Langfassung, 2. Auflage, Version 1
ersetzt durch Version 2. Begründung: Ergänzt wurden in den Empfehlungskästen die Levels of Evidence (LoE) für die im Rahmen des Updates nicht modifizierten, sondern bestätigten Empfehlungen.
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Langfassung, 2. Auflage, Konsultationsentwurf
ersetzt durch Finalfassung. 2. Auflage, Version 1, November 2015.
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Langfassung, 1. Auflage, Version 5
ersetzt durch 2. Auflage, Version 1, November 2015.
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Langfassung, 1. Auflage, Version 1.3
ersetzt durch Version 5, Juni 2015. Begründung: Grundsätzliche Änderung der vorgegebenen Gültigkeit aller NVL von vier auf fünf Jahre, Einführung neuer Versionsnummerierung, Ergänzung der DOI sowie redaktionelle Änderungen. Gültigkeit auf Antrag des Leitliniensekretariates nach Überprüfung verlängert bis zum 31.08.2015
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Langfassung, 1. Auflage, Version 1.2
ersetzt durch Version 1.3, Januar 2012. Begründung: Ergänzungen zu Citalopram und Escitalopram im Kapitel "H 3.6.2.1 Kardiovaskuläre Erkrankungen und Schlaganfall"
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Langfassung, 1. Auflage, Konsultationsentwurf, Version 1.2
ersetzt durch Finalfassung. Begründung: Ende der Konsultationsphase am 28. August 2009
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Langfassung, 1. Auflage, Version 1.1
ersetzt durch Version 1.2, August 2011. Begründung: Änderung zu Reboxetin, redaktionelle Änderungen
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Langfassung, 1. Auflage, Konsultationsentwurf, Version 1.1
ersetzt durch Version Kons. 1.2, Juli 2009. Begründung: Ergänzung Kapitel 4
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Langfassung, 1. Auflage, Version 1.0
ersetzt durch Version 1.1, Dezember 2009. Begründung: Korrektur der Zusammenfassung des systematischen Reviews von Rose et al. 2003, S. 138
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Langfassung, 1. Auflage, Konsultationsentwurf, Version 1.0
ersetzt durch Version Kons. 1.1, Juni 2009. Begründung: Redaktionelle Änderungen im Impressum, inhaltlich unverändert
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Kurzfassung, 2. Auflage, Version 1
PDF zum Download
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Kurzfassung, 1. Auflage, Version 5 - englisch
Gültigkeit abgelaufen, November 2015. Begründung: Veröffentlichung der Langfassung, 2. Auflage
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Kurzfassung, 1. Auflage, Version 5
Gültigkeit abgelaufen, November 2015. Begründung: Veröffentlichung der Langfassung, 2. Auflage
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Kurzfassung, 1. Auflage, Version 1.3 - englisch
ersetzt durch Version 5, Juni 2015. Begründung: Extension of the validity period from four to five years for all NDMG in principle, new version numbering, addition of the DOI, editorial changes. Validity extended until August 31, 2015 on request of the guideline office
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Kurzfassung, 1. Auflage, Version 1.3
ersetzt durch Version 5, Juni 2015. Begründung: Grundsätzliche Änderung der vorgegebenen Gültigkeit aller NVL von vier auf fünf Jahre, Einführung neuer Versionsnummerierung, Ergänzung der DOI sowie redaktionelle Änderungen. Gültigkeit auf Antrag des Leitliniensekretariates nach Überprüfung verlängert bis zum 31.08.2015
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Kurzfassung, 1. Auflage, Version 1.2 - englisch
ersetzt durch Version 1.3, Januar 2012. Begründung: Anpassung der Versionsnummerierung an Langfassung, erste Version: 1.2
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Kurzfassung, 1. Auflage, Version 1.2
ersetzt durch Version 1.3, Januar 2012. Begründung: Anpassung der Versionsnummerierung an Langfassung
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Kurzfassung, 1. Auflage, Version 1.1
ersetzt durch Version 1.2, August 2011. Begründung: Änderung zu Reboxetin, redaktionelle Änderungen
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Kurzfassung, 1. Auflage, Version 1.0
ersetzt durch Version 1.1, Dezember 2009. Begründung: Anpassung der Versionsnummerierung an Langfassung, ohne inhaltliche Änderungen
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Leitlinienreport, Version 3, Konsultationsfassung
ersetzt durch Version 3.0, September 2022
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Leitlinienreport, 2. Auflage, Version 5
ersetzt durch Version 3.0, September 2022
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