4 Diagnostik
Vorbemerkung
In diesem Kapitel wird die Diagnose des Typ-2-Diabetes inklusive der empfohlenen Anamnese und Untersuchungen bei Erstdiagnose und bei regulären Verlaufsuntersuchungen auf diabetesbezogene Folge- und Begleiterkrankungen beschrieben. Details zur Diagnostik und Therapie dieser Erkrankungen werden im Kapitel Folge- und Begleiterkrankungen bei den jeweiligen Krankheitsentitäten aufgeführt (folgen).
Voraussetzung für die Einleitung der Diagnostik ist in Kapitel 4 Diagnostik ein konkreter klinischer oder laborchemischer Verdacht auf Typ-2-Diabetes. Nach Einschätzung der DDG und DGIM sind die hier beschriebenen labordiagnostischen Maßnahmen auch für Menschen mit erhöhtem Diabetesrisiko zu empfehlen. Populationsbezogenes Screening und das Vorgehen bei erhöhtem Diabetesrisiko werden im Kapitel 3 Screening und erhöhtes Diabetesrisiko adressiert.
4.1 Diagnose des Typ-2-Diabetes
Empfehlung |
|
---|---|
4-1 | k | neu 2023 Die Diagnose Typ-2-Diabetes soll in Zusammenschau der Anamnese, der klinischen Befunde und auf Basis von bestätigten Laborwerten erfolgen (siehe Abbildung 6). |
Die Leitliniengruppe spricht konsensbasiert eine starke Empfehlung aus. Sie sieht aufgrund von Überlegungen zu guter klinischer Praxis und Erwägungen hinsichtlich der unterschiedlichen Einschränkungen der einzelnen Labormethoden (siehe auch Tabelle 12) einen großen Nutzen und keinen Hinweis auf Schaden.
Evidenzbasis und Versorgungsproblem
Die Empfehlung wurde konsensbasiert ausgesprochen und beschreibt gute klinische Praxis. Die Leitliniengruppe nimmt als Versorgungsproblem wahr, dass zur Diagnosestellung die Kontextfaktoren der Betroffenen sowie die Einschränkungen der einzelnen Laborparameter als Diagnosekriterien häufig nicht ausreichend berücksichtigt werden.
Erwägungen, die die Empfehlung begründen
Für die Diagnose des Typ-2-Diabetes ist es wichtig, die zu untersuchende Person mit all ihren Kontextfaktoren (Umweltfaktoren und personenbezogene Aspekte, die den Lebenshintergrund eines Menschen abbilden) zu erfassen und sich bei der Betrachtung nicht auf einzelne Laborwerte zu beschränken (siehe auch Kapitel 2 Partizipative Entscheidungsfindung (PEF) und Teilhabe in allen relevanten Lebensbereichen).
Dass jedes Laborergebnis mit einer Messunsicherheit behaftet ist und nur eine Momentaufnahme erlaubt, begründet die Empfehlung, die Einschränkungen des Messverfahrens bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen und die Diagnose auf Basis von bestätigten Laborwerten zu stellen (siehe auch Empfehlung 4-4, sowie Kapitel 4.1.2.2 Diagnosekriterien).
Typ-2-Diabetes kann über einen langen Zeitraum asymptomatisch verlaufen. Daher ist die Anamnese hinsichtlich diabetesspezifischer Symptome zu Beginn der Erkrankung nicht immer zielführend. Große Bedeutung hat sie aber bei der Evaluation des Diabetesrisikos und beeinflussender Faktoren des Glukosestoffwechsels (z. B. Medikamenteneinnahme, akute Erkrankungen, vorherige Nahrungsaufnahme).
4.1.1 Anamnese und körperliche Untersuchungen
Empfehlung |
|
---|---|
4-2 | k | modifiziert 2023 Bei der Eingangsuntersuchung zur Diagnose des Typ-2-Diabetes sollen die in Tabelle 9 aufgeführte Anamnese und Untersuchungen durchgeführt werden, wenn angemessen (zur Definition von "angemessen" siehe Rationale). |
Tabelle 9: Anamnese und Untersuchungen bei der Erstdiagnose des Typ-2-Diabetes (modifiziert nach 23863)
Anamnese |
---|
Gewichtsentwicklung (Zunahme/ungewollte Abnahme), hoher Blutdruck, Fettstoffwechselstörungen, Durst, häufiges Wasserlassen, Ernährung, Infektneigung (insbesondere Entzündungen der Haut), Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Schwäche, körperliche Aktivität/Inaktivität, Medikamenteneinnahme (z. B. Glucocorticoide), Rauchen, depressive Symptome, kognitive Einschränkungen, Merk- und Konzentrationsfähigkeit, Sehstörungen, erektile Dysfunktion, Geburt von Kindern > 4 000 g, Gestationsdiabetes in der Vorgeschichte Zu beachten ist, dass der Typ-2-Diabetes initial oft symptomarm ist bzw. dass die Symptome häufig verkannt werden. |
Familienanamnese |
Diabetes, Übergewicht/Adipositas, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Herzinfarkt, Schlaganfall, frühe Sterblichkeit, Amputation |
Körperliche Untersuchung |
Größe, Gewicht (BMI), ggf. Taillen-/Hüftumfang, kardiovaskuläres System, Blutdruck, periphere Arterien, peripheres Nervensystem, Haut, Augenuntersuchung, Fußuntersuchung (inklusive Fußpulse), ggf. Palpation des Abdomens (Leber vergrößert und/oder konsistenzvermehrt?), Hinweise auf sekundäre Formen der Glukosetoleranzstörung (z. B. bei Glucocorticoid-Therapie oder bei einigen endokrinologischen Erkrankungen, Hämochromatose), Vorliegen geriatrischer Syndrome bei Menschen höheren Alters |
Laboruntersuchungen |
|
Zu Untersuchungen im Screening auf Folge- und Begleiterkrankungen siehe Tabelle 21.
Das Vorgehen bei symptomatischen Erkrankten wird im Kapitel 4.1.3 Vorgehen bei symptomatischen Personen beschrieben.
Die Leitliniengruppe spricht auf Grundlage kritischer Überlegungen zur Krankheitsentstehung, zu epidemiologischen Daten zu Risikofaktoren, begleitenden Erkrankungen und Symptomen eine starke Empfehlung aus. Nach Einschätzung der Leitliniengruppe wird mit der Empfehlung gute klinische Praxis beschrieben, von der Erkrankte profitieren. Die Formulierung "wenn angemessen" weist ausdrücklich darauf hin, dass der Umfang der Anamnese und körperlichen Untersuchung je nach klinischer Situation unterschiedlich sein kann und von der oder dem Behandelnden eingeschätzt und festgelegt wird. Maßgebend sind hier zum Beispiel die therapeutische Konsequenz aus den erhobenen Befunden, die klinische Situation, in der die Erkrankung diagnostiziert wird und bereits vorliegende Befunde aus anderen Untersuchungen.
Evidenzbasis
Empfehlung 4-2 und Tabelle 9 basieren in Grundzügen auf der NVL Therapie des Typ-2-Diabetes 23863. Die Leitliniengruppe sieht keinen Grund, von der vorherigen Empfehlung abzuweichen. In der strukturierten Recherche wurden keine hochwertigen Übersichtsarbeiten zu dieser Fragestellung identifiziert. Die Leitliniengruppe erwartet keine Studien zu dieser Fragestellung, daher wurde auf eine zusätzliche systematische Recherche verzichtet. Epidemiologische Daten stützen die Empfehlung. Sie zeigen, dass Menschen mit Typ-2-Diabetes zum Beispiel häufiger von Adipositas, Bluthochdruck und kardiovaskulären Erkrankungen betroffen sind (siehe Kapitel 1.6 Begleiterkrankungen und Folgekomplikationen).
Erwägungen, die die Empfehlung begründen
In Tabelle 9 wurden wichtige manifestationsfördernde Faktoren und klinische Symptome durch die Leitlinengruppe zusammengetragen, durch deren Erfassung sich ein guter Überblick über die klinische Symptomatik und das Risikoprofil des Patienten bzw. der Patientin ergibt. Aus Sicht der Leitliniengruppe profitieren Betroffene von einer umfassenden Anamnese und körperlichen Untersuchung, da so alle wichtigen Aspekte berücksichtigt werden.
Die angegebenen Laboruntersuchungen dienen neben der Diagnose der Glukosesstoffwechselstörung dem Screening auf eine Nephropathie bei Diabetes. Durch die Erfassung des Lipidstatus (Gesamtcholesterin und Differenzierung nach Lipoprotein hoher Dichte (High-density Lipoprotein (HDL)) sowie geringer Dichte (Low-density Lipoprotein (LDL)), ggf. Triglyceride) lassen sich Hinweise auf kardiovaskuläre Risikofaktoren identifizieren, die die Gesamtprognose beeinflussen können (Siehe Kapitel 4.4 Screening auf Folge- und Begleiterkrankungen).
DEGAM und AkdÄ sprechen sich gegen eine routinemäßige Erhebung des Taille-Hüft-Verhältnisses aus, da sich hieraus aus Sicht der Fachgesellschaft/Organisation keine Verbesserung der Risikoprädiktion im Vergleich zur Betrachtung traditioneller Risikofaktoren ergibt (30888, aktuell in Überarbeitung, Stand 03/2023).
Der Nutzen der Durchführung eines U-Status und der Bestimmug der Urin-Albumin-Kreatinin-Ratio (UACR) bei der Erstdiagnose und dem regelmäßigen Screening auf eine Nephropathie wird innerhalb der Leitliniengruppe unterschiedlich eingeschätzt. Die Positionen der Fachgesellschaften werden im Folgenden zusammenfassend dargestellt.
Abweichende Einschätzungen der Fachgesellschaften zur Durchführung eines U-Status und der Bestimmung der UACR bei der Erstuntersuchung und dem regelmäßigen Screening auf Folge- und Begleiterkrankungen
DEGAM und AkdÄ sprechen sich gegen einen U-Status als Bestandteil der Eingangsuntersuchung aus. Aus Sicht der Fachgesellschaft/Organisation liegen keine Daten vor, die einen Nutzen des U-Status bei asymptomatischen und ansonsten unauffälligen Patient*innen (eGFR > 60 ml/min) mit Diabetes zeigen. Das geringe absolute Risiko einer Entwicklung einer terminalen Niereninsuffizienz muss in die Überlegungen einbezogen werden (positiver prädiktiver Wert). Größer als den potentiellen Nutzen schätzen die Fachgesellschaft und Organisation den potentiellen Schaden ein, der durch Überdiagnostik und Übertherapie bei auffallenden Befunden (z. B. Nitrit positiv) ohne Behandlungsnotwendigkeit entsteht. Bezüglich der UACR sprechen sich DEGAM und AkdÄ für eine individuell zu prüfende Bestimmung für bestimmte Risikogruppen aus. Dies sind – zusammengefasst – Patient*innen, die eine schlecht kontrollierte Plasmaglukose bzw. Bluthochdruck haben, ggf. für Letzteres noch keinen ACE-Hemmer (bzw. AT1-Rezeptorantagonisten) erhalten und die zugleich zu einer Therapieeskalation bereit sind, wüssten sie von dem Vorhandensein des zusätzlichen Risikofaktors "Albuminurie" 23863. In der S3-Leitlinie zur Versorgung von Menschen mit nichtdialysepflichtiger Nierenerkrankung in der Hausarztpraxis wird die Bestimmung bei Erstdiagnose einer eGFR < 60 ml/min und Erstdiagnose eines Hypertonus empfohlen 31571.
DDG, DGIM, DGfN und DGEM empfehlen zum Screening auf Nephropathie bei Diabetes die Bestimmung der eGFR, der UACR und einen U-Status für alle Menschen mit Typ-2-Diabetes bei der Eingangsuntersuchung und im regelmäßigen Verlauf. Dies erlaubt aus Sicht der Fachgesellschaften im Vergleich zur alleinigen Bestimmung der eGFR eine zusätzliche Risikoabschätzung für kardiovaskuläre und renale Folgeerkrankungen. Eine alleinige Bestimmung einer eGFR > 60 ml/min ist aus Sicht der Fachgesellschaften nicht ausreichend, um eine Nierenerkrankung auszuschließen. Die jährliche Bestimmung der UACR erfolgt aus dem ersten Morgenurin. Bei nicht eindeutigen Befunden gilt die 2-aus-3-Regel.
In einem zusätzlich zur eGFR-Bestimmung durchgeführten und der UACR-Bestimmung vorangestellten U-Status sehen die DDG, DGIM, DGfN und DGEM einen preisgünstigen und aussagekräftigen Test, der die Risikoeinschätzung und Diagnose von nephrologischen Erkrankungen mit initial alleiniger Mikrohämaturie verbessert. Bei diesen kann die eGFR noch lange im Bereich > 60 ml/min liegen. Ohne U-Status erfolgt die Diagnose erst, wenn bereits eine beträchtliche Funktionseinbuße vorliegt. Die Fachgesellschaften erläutern, dass Diabetes bereits einen Risikofaktor für die Entwicklung eine Nephropathie darstellt. Die Untersuchung findet daher gezielt bei einer Risikopopulation statt. Dem potentiellen Schaden durch Überdiagnostik und Übertherapie bei auffallenden Befunden ohne Behandlungsnotwendigkeit wird entgegengesetzt, dass die angemessene Interpretation eines U-Status bei hausärztlichen Kolleg*innen vorausgesetzt werden kann. Die adäquate Einschätzung der unterschiedlichen Parameter des U-Status werden in der S3-Leitlinie zu unkomplizierten, bakteriellen, ambulant erworbenen Harnweginfektionen beschrieben 28842. Hinweise zum Umgang mit einer nicht sichtbaren Hämaturie gibt eine entsprechende S1-Leitlinie der DEGAM 32612. Es wird ein zweizeitiges Vorgehen vorgeschlagen. Bei einem pathologischen Urinbefund (U-Status) mit Hinweis auf eine Infektion oder andere Auffälligkeiten, die eine Protein- oder Albuminbestimmung stören, ist die Bestimmung der UACR zum Untersuchungszeitpunkt nicht sinnvoll. Ein zweizeitiges Vorgehen ist aus Sicht der Fachgesellschaften in diesen Fällen durchzuführen. Hierdurch können Ressourcen aus Sicht der Fachgesellschaften zielgerichteter eingesetzt werden.
Weiterführende Informationen: Klinische Proteomanalyse (CKD273) im Screening auf Nephropathie bei Diabetes
Nach einem Beschluss des G-BA darf die Proteomanalyse zum Zeitpunkt der Bearbeitung der NVL (Stand März 2023) nicht als Untersuchungsmethode in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen erbracht werden 33235. Gemäß dem IQWiG Rapid Report zur Proteomanalyse zur Erkennung einer diabetischen Nephropathie bei Diabetes mellitus und arteriellem Hypertonus ergab sich aus den vorliegenden Daten kein Nutzen oder Schaden einer diagnostisch therapeutischen Strategie mit Anwendung der Proteomanalyse 33236.
Weiterführende Informationen: Geriatrische Syndrome und geriatrisches Assessment
Die Prävalenz des Diabetes steigt mit zunehmendem Alter an und liegt nach der bundesweiten Befragungsstudie GEDA 2019/2020-EHIS bei den ≥ 80-Jährigen bei 22,3 bzw. 17,9% (Männer, Frauen) 32433. Bei geriatrischen Personen sind vermehrt Problemkonstellationen anzutreffen, die als geriatrische Syndrome bezeichnet werden. Zu diesen zählen zum Beispiel Frailty und Sarkopenie, Malnutrition, Inkontinenz, chronische Schmerzen, Depressionen, Demenz, Veränderungen der Kognition sowie der exekutiven Funktionen, eingeschränkte Feinmotorik, Immobilität und Stürze (30469, 32985 selektiv eingebrachte Literatur). Geriatrische Syndrome können viele Fertigkeiten zum Selbstmanagement und die Lebensqualität der Betroffenen einschränken. Eine besondere Herausforderung für die Versorgung von älteren Personen besteht darin, Einschränkungen frühzeitig zu erkennen, um Unterstützungsmaßnahmen einleiten und Autonomieverlust und Pflegebedürftigkeit verhindern zu können.
In der S2k-Leitlinie Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Alter 30469 wird zur Feststellung der Ressourcen und Defizite bei älteren Menschen mit Diabetes ein geriatrisches Assessment empfohlen. Hierunter wird eine Reihe von Funktionsuntersuchungen verschiedener Bereiche verstanden. Von diesen kommt den Untersuchungen für die Bereiche der Kognition, des Affektes, der Mobilität und Sturzgefahr, der Gebrechlichkeit, des Ernährungszustandes sowie den Performance-Testungen besondere Bedeutung bei Menschen mit Diabetes zu. Die Untersuchungen dienen dabei nicht nur der reinen Erfassung von Defiziten, sondern einer Verbesserung der Therapieplanung und der Sicherheit für ältere Menschen mit Diabetes. Wichtige Untersuchungen des geriatrischen Assessments sind in der S2k-Leitlinie zu finden 30469 (siehe auch Anhang 6 Beispiele für Testverfahren des geriatrischen Assessments).
Für in der Primärversorgung tätige Ärztinnen und Ärzte gibt es einfache und in Deutschland durch die Krankenkassen auch vergütete Möglichkeiten eines geriatrischen Basisassessments, um vulnerable Personen frühzeitig und mit geringem Aufwand zu erkennen. Das Kompetenz-Centrum Geriatrie stellt unter www.kcgeriatrie.de eine große Auswahl von Assessment-Instrumenten zur Verfügung.
4.1.2 Labordiagnostik
Auf Basis der klinischen Erfahrung und Erwägungen zu den Einschränkungen der angewendeten Labormethoden sieht die Leitliniengruppe einen großen Nutzen in Bezug auf eine korrekte Diagnose und damit in der Folge auch eine Reduktion von Unter- und Überversorgung. Sie sieht keine Hinweise auf Schäden für das empfohlene Vorgehen und spricht konsensbasiert eine starke Empfehlung aus.
Evidenzbasis und Versorgungsproblem
Die Empfehlungen wurden konsensbasiert ausgesprochen und beschreiben gute klinische Praxis. Die Leitliniengruppe beschreibt aus ihrer klinischen Erfahrung, dass die Einschränkungen der angewendeten Labormethoden und unterschiedliche Messgenauigkeiten bei der Interpretation der Ergebnisse häufig nicht ausreichend berücksichtigt werden. Als unterstützende Literatur dienten die vorherige Auflage der NVL Therapie des Typ-2-Diabetes (2014), sowie nationale und internationale Konsensuspapiere 23863, 31013, 32982, 30871.
Erwägungen, die die Empfehlung begründen
Um verlässliche, vergleichbare Ergebnisse zu erhalten, empfiehlt die Leitlineingruppe, zur Diagnose eines Typ-2-Diabetes für die Bestimmung der Plasmaglukose und des HbA1c standardisierte und qualitätsgesicherte Labormethoden aus venösem Blut einzusetzen. Geräte zur Selbstmessung eignen sich nach Einschätzung der Leitliniengruppe hierfür meist nicht. Von diesem Vorgehen kann aus Sicht der Leitliniengruppe in Ausnahmefällen abgewichen werden, wenn beispielsweise die Diagnose durch klinische Hinweise bereits sehr eindeutig erscheint oder eine Notfallsituation besteht (siehe auch Kapitel 4.1.3 Vorgehen bei symptomatischen Personen). Einen Vorteil sieht die Gruppe hierbei auch in einer Ressourcenschonung. Urin-Teststreifen und Methoden zur Selbst-Bestimmung eignen sich aus Sicht der Leitliniengruppe nur zum Ausschluss eines erheblich erhöhten Blutzuckers, wenn der Verdacht auf eine symptomatische Diabeteserkrankung vorliegt.
Unabhängig von dieser Standardisierung und der Qualitätssicherung der Labormethode ergeben sich eine Reihe von Fehlerquellen, die idealerweise identifiziert und behoben, zumindest aber bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden müssen, um Fehldiagnosen zu vermeiden. Einschränkungen der Testverfahren und Beispiele für Fehlerquellen in der Labordiagnostik werden im Kapitel 4.1.2.2 Diagnosekriterien beschrieben.
Weiterführende Informationen: Messunsicherheit/Minimale Differenz
Jedes Laborergebnis ist mit einer Messunsicherheit behaftet. Diese setzt sich aus der Präzision und der Richtigkeit der Messung zusammen. Ohne die Angabe der Messunsicherheit ist eine medizinische Bewertung eines Laborwertes mindestens erschwert, manchmal sogar unmöglich. Einzelne Messergebnisse qualitativ hochwertiger Systeme von Messergebnissen minderwertiger Systeme oder falsch angewendeter Systeme zu unterscheiden, ist ohne Kenntnis der Messunsicherheit nicht möglich.
Minimale Differenz: Die Messunsicherheit wird im Labor in der Regel als Variationskoeffizient (VK, %) berichtet. Der VK berechnet sich unter der Berücksichtigung der Standardabweichung (SD) nach folgender Formel:
Variationskoeffizient VK [%] = (Standardabweichung SD / Mittelwert MW) x 100 |
Die Standardabweichung (SD) ist ein Maß für die Streubreite der Werte eines Laborparameters um dessen Mittelwert (arithmetisches Mittel). Wird die Messunsicherheit nicht in Prozent (siehe VK), sondern in den Einheiten der Messgröße angegeben, also z. B. in mg/dl, so kann sie direkt auf das Messergebnis angewendet werden. Dafür stellt die Berechnung der Minimalen Differenz ein wichtiges und nützliches Instrument dar:
Minimale Differenz (MD) = 2 x Standardabweichung (SD) |
Die Minimale Differenz (MD) gibt konkrete Konzentrationen in absoluten Werten an, ab wann sich ein Messwert mit einem Vertrauensbereich von 95% von einem Grenzwert unterscheidet. Die MD sollte das zuständige Labor mitteilen.
Bei einem Grenzwert von 100 mg/dl (5,6 mmol/l) beträgt die MD abhängig vom Variationskoeffizienten (VK): ± 4 mg/dl (0,2 mmol/l) für einen VK von 2% und ± 10 mg/dl (0,6 mmol/l) bei einem VK von 5%. Dies bedeutet, dass ein Glukosemesswert sich von einem Glukosewert von 100 mg/dl (5,6 mmol/l) analytisch dann unterscheidet, wenn er – bei einem VK von 2% – niedriger als 96 mg/dl (5,3 mmol/l) bzw. höher als 104 mg/dl (5,8 mmol/l) ist. Bei einem VK von 5% liegen diese Werte bei 90 mg/dl (5,0 mmol/l) bzw. 110 mg/dl (6,1 mmol/l). Diese Streuung besitzt einen erheblichen Stellenwert für die Diagnosestellung eines Diabetes, da die Diagnose eines Diabetes mit einem Schwellenwert (i. e. ≥ 126 mg/dl = 7,0 mmol/l) verbunden ist, der möglichst eine ganz enge Streuung besitzen sollte. Dadurch, dass die Minimale Differenz in der Einheit des Messwertes angegeben wird, muss sie spezifisch für die betrachtete Konzentration ermittelt und berichtet werden.
Hinweis für die Praxis |
---|
Die Kommission Labordiagnostik (KLD) der DDG/DGKL empfiehlt für die Praxis folgende Grenzwerte 31034, 31035:
|
4.1.2.1 Diagnosealgorithmus
Vorbemerkung
Die Ergebnisse der Diagnostik erlauben jeweils eine Aussage zum aktuellen Zeitpunkt. Insbesondere im Bereich nahe der diagnostischen Grenzen kann eine Überprüfung im Verlauf zu einem abweichenden Ergebnis kommen (siehe auch Empfehlung 4-7).
Der Algorithmus ist aktiv: Sie können den Verweisen folgen und per Klick auf die entsprechende Stelle direkt in die Leitlinie "springen". 1 siehe Abweichende Einschätzungen der Fachgesellschaften (DEGAM/AkdÄ: wie diabetische Retinopathie, Nephropathie, Polyneuropathie; DDG/DGIM: Makro- und/oder Mikroangiopathie). 2 ergibt sich der Verdacht auf Diabetes allein aus einem erhöhten Diabetesrisiko gemäß Kapitel 3.1 Menschen mit erhöhtem Diabetesrisiko, sprechen sich DDG/DGIM für eine Diagnostik gemäß Algorithmus aus. Aus Sicht der DEGAM/AkdÄ muss in diesen Fällen kein weiterer Wert bestimmt werden, wenn die NPG im Normbereich liegt (siehe Abweichende Einschätzungen der Fachgesellschaften zur empfohlenen Diagnostik bei Menschen mit erhöhtem Diabetesrisiko, Kapitel 3.1 Menschen mit erhöhtem Diabetesrisiko). 3 HbA1c-Werte sind nur dann aussagekräftig, wenn mit hinreichender Sicherheit keine Störfaktoren oder Einflussgrößen vorliegen (siehe Tabelle 14). Die GPG ist nur zur Bestätigung der Diabetesdiagnose verwendbar, wenn das Ergebnis im sicher pathologischen Bereich liegt (siehe Kapitel 4.1.2.2 Diagnosekriterien). 4 Siehe auch Bewertung des oGTT durch die Fachgesellschaften. |
Tabelle 10: Laborkriterien (modifiziert nach 31013)
|
Kein Diabetes1 |
Erhöhtes Risiko für Diabetes |
Diabetes |
---|---|---|---|
NPG |
< 100 mg/dl3 (< 5,6 mmol/l) |
100–125 mg/dl3 (5,6–6,9 mmol/l) |
≥ 126 mg/dl (≥ 7,0 mmol/l) |
HbA1c2 |
< 5,7% (< 39 mmol/mol) |
5,7 bis < 6,5% (39 bis < 48 mmol/mol) |
≥ 6,5% (≥ 48 mmol/mol) |
GPG |
|
|
≥ 200 mg/dl (≥ 11,1 mmol/l) |
1 Bezüglich Ausschlussdiagnostik siehe Kapitel 4.1.2.3 Ausschluss der Diagnose 2 Besonderheiten/Einflussfaktoren (u. a. Alter) siehe auch Tabelle 14 und Tabelle 15 3 Die DEGAM, AkdÄ, DGfW und DGP schließen sich den WHO-Grenzwerten für die NPG an: kein Diabetes < 110 mg/dl (< 6,1 mmol/l), erhöhtes Risiko für Diabetes 110–125 mg/dl (6,1–6,9 mmol/l) 30949, 30948, siehe auch Abweichende Einschätzungen der Fachgesellschaften im Anhang 9. NPG: Nüchternplasmaglukose, GPG: Gelegenheitsplasmaglukose |
Der Algorithmus beschreibt konsensbasiert das angemessene Vorgehen zur Diagnose der Glukosestoffwechselstörung. Leitend ist dabei das Ziel, durch eine Kombination von unterschiedlichen Messwerten deren jeweilige Limitationen auszugleichen und so das Risiko für Über- und Unterdiagnostik zu reduzieren. Dieses Ziel ist aus Sicht der Leitliniengruppe prioritär. Je nach Versorgungsebene werden dabei einzelne Messverfahren von den jeweiligen Fachgesellschaften unterschiedlich bewertet und die therapeutische Konsequenz aus einzelnen Messwerten unterschiedlich eingeschätzt. Der Algorithmus beschreibt insbesondere die Gemeinsamkeiten bezüglich des diagnostischen Vorgehens, um das zentrale Anliegen zu betonen – die Absicherung durch mindestens zwei Werte und ein gestuftes Vorgehen bei widersprüchlichen Ergebnissen oder Ergebnissen im Bereich des erhöhten Risikos. Abweichende Einschätzungen zu einzelnen Aspekten des Algorithmus sind in Kapitel 4.1.2.1.1 Erläuterungen zum Algorithmus und abweichende Einschätzungen der Fachgesellschaften dargestellt.
Evidenzbasis und Versorgungsproblem
Der Algorithmus beruht auf klinischen Überlegungen und Erwägungen zu den Einschränkungen der einzelnen Laborparameter (siehe auch Empfehlungen 4-1, 4-3, 4-4 und Kapitel 4.1.2.2 Diagnosekriterien) und findet sich inzwischen auch in der DDG-Praxisempfehlung zur Diagnostik des Diabetes mellitus 32982, und in internationalen Leitlinien 31013. Zur Testgüte der einzelnen Messverfahren erfolgte keine gezielte systematische Recherche, da bei der Wahl der geeigneten Verfahren nach Einschätzung der Leitliniengruppe eher die praktischen Limitationen der einzelnen Testverfahren maßgeblich sind. Eine systematische Recherche schien zudem nicht hilfreich, da in den meisten Studien der orale Glukose-Toleranz-Test als Referenztest dient, aber insbesondere dieser durch die Vertreter*innen der unterschiedlichen Versorgungsebenen kontrovers beurteilt wird (siehe auch Bewertung des oGTT durch die Fachgesellschaften). Orientierend wurde für die Testgüte ein selektiv eingebrachter systematischer Review herangezogen 31086.
Eindeutig pathologische Werte der angegebenen Parameter erscheinen grundsätzlich geeignet, einen Diabetes zu diagnostizieren. Unsicherheiten der Laborparameter durch präanalytische Faktoren werden nach klinischer Erfahrung der Leitliniengruppe teilweise nicht ausreichend berücksichtigt. Ein einzelner Laborwert ist aus Sicht der Leitliniengruppe nicht ausreichend, um die Diagnose Diabetes mellitus zu stellen und die Einleitung einer Therapie zu begründen.
Evidenzbeschreibung
In dem selektiv eingebrachten systematischen Review wurde die diagnostische Güte des HbA1c-Wertes und der Nüchternplasmaglukose im Screening bei Menschen ohne bekannten Diabetes betrachtet (AMSTAR-2-Kategorie critically low, aber ausführliche Suche, Studienselektion und Extraktion) 31086. Als Referenztest diente der orale Glukose-Toleranz-Test. Für den HbA1c-Wert (diagnostischer Grenzwert 6,5% bzw. 48 mmol/mol) wurde eine Sensitivität von 50% (95% KI 42; 59%) und eine Spezifität von 97% (95% KI 95; 98) angegeben (17 Studien, Fälle/Teilnehmende: 5 132/64 928, Aussagesicherheit der Evidenz sehr niedrig, Inkonsistenz, fehlende Präzision, Indirektheit und Verzerrungsrisiken in den Studien). Die Angaben zur Sensitivität schwankten in den Studien zwischen 24 und 78%, für die Spezifität zwischen 79 und 100%. Die geschätzte mediane Prävalenz lag bei 9,38% (Interquartilbereich 6,77; 11,07). Die Sensitivität der Nüchternplasmaglukose (Grenzwert 126 mg/dl bzw. 7,0 mmol/l) wurde mit 59,4% (95% KI 46,6; 71), die Spezifität mit 98,8% (95% KI 96,5; 99,6) angegeben (10 Studien, Fälle/Teilnehmende 3 438/45 917, Aussagesicherheit der Evidenz sehr niedrig). Einschränkend ist zu berücksichtigen, dass der Stellenwert des oralen Glukose-Toleranz-Tests als Referenztest von den Fachgesellschaften unterschiedlich eingeschätzt wurde (siehe Bewertung des oGTT durch die Fachgesellschaften).
4.1.2.1.1 Erläuterungen zum Algorithmus und abweichende Einschätzungen der Fachgesellschaften
Anlass für die Untersuchung (Definition "Verdacht auf Diabetes")
Verdachtsmomente, die Anlass zur Untersuchung auf einen Diabetes geben, sind im Algorithmus aufgeführt. Zu berücksichtigen ist, dass diabetesspezifische Symptome im Verlauf der Erkrankung auch erst spät auftreten können und die Abwesenheit von Symptomen eine Diabeteserkrankung nicht ausschließt (siehe auch Kapitel 3 Screening und erhöhtes Diabetesrisiko). Das Vorgehen bei Personen mit Symptomen wird in Kapitel 4.1.3 Vorgehen bei symptomatischen Personen beschrieben. Welche Erkrankungen und ob ein erhöhtes Diabetesrisiko zu der hier beschriebenen diagnostischen Abklärung führen sollen, wird von den Fachgesellschaften unterschiedlich eingeschätzt. Dies wird im Folgenden dargestellt.
Abweichende Einschätzungen der Fachgesellschaften zum Anlass für die Untersuchung
Die DDG und DGIM verstehen in diesem Zusammenhang makro- und mikroangiopathische, sowie neurologische Komplikationen als diabetesassoziierte Erkrankungen. Auch bei Menschen mit erhöhtem Diabetesrisiko (siehe Kapitel 3.1 Menschen mit erhöhtem Diabetesrisiko) ist aus Sicht der DDG und DGIM eine diagnostische Abklärung mit mindestens zwei Laborwerten indiziert. Die Fachgesellschaften weisen zusätzlich auf eine wechselseitige Assoziation zwischen einigen Krebserkrankungen (Leber-, Pankreas- und Endometriumkarzinom) und Diabetes hin (32747, selektiv eingebrachte Literatur). Aus ihrer Sicht ist auch bei dieser Personengruppe – beispielsweise vor geplanter Chemotherapie (u. a. mit Glucocorticoiden) – eine Diagnostik auf eine Glukosestoffwechselstörung sinnvoll.
Für die DEGAM und AkdÄ sind nur diabetesassoziierte Erkrankungen wie z. B. eine diabetische Retinopathie, Nephropathie und Neuropathie ausreichend hinweisend, um die diagnostische Abklärung zu veranlassen. Bei Menschen mit erhöhtem Diabetesrisiko ohne die hier genannten klinischen und laborchemischen Verdachtsmomente ist aus Sicht der DEGAM und AkdÄ eine orientierende Bestimmung der Nüchternplasmaglukose ausreichend (siehe Kapitel 3.1 Menschen mit erhöhtem Diabetesrisiko).
Bestimmung der Laborwerte
Wie in Empfehlung 4-1 beschrieben, soll die Diagnose Diabetes auf Basis von bestätigten Laborwerten erfolgen. Hierzu stehen unterschiedliche Parameter zur Verfügung, die jeweils Vor- und Nachteile haben (siehe Tabelle 12). Durch Kombination der Laborparameter können diese ausgeglichen werden.
Die Werte können simultan aus einer Blutprobe bestimmt werden oder zeitversetzt nacheinander. Auch eine Nachbestimmung des HbA1c-Wertes ist möglich. HbA1c-Werte sind nur dann aussagekräftig, wenn mit hinreichender Sicherheit keine Störfaktoren oder Einflussgrößen vorliegen. Beeinflussende Faktoren sind bei der Interpretation zu berücksichtigen (siehe Tabelle 14). Welche Laborparameter zur Diagnose herangezogen werden, ist von der oder dem Behandelnden entsprechend der klinischen Situation zu entscheiden. In die Entscheidung fließen auch Überlegungen zur therapeutischen Konsequenz der Diagnose bzw. zum Nutzen einer potentiellen Therapie.
Überlegungen zur Bestätigung sind im Folgenden aufgeführt. Die unterschiedlichen Einschätzungen der Fachgesellschaften zum Ausschluss der Diagnose sind in Kapitel 4.1.2.3 Ausschluss der Diagnose beschrieben.
Bestätigung der Diabetes-Diagnose
Die Diabetes-Diagnose soll auf Grundlage bestätigter Laborwerte gestellt werden (mindestens zwei Werte). Folgende Überlegungen sind zu berücksichtigen:
- Die Bestätigung kann durch eine Wiederholung desselben Parameters, oder die Bestimmung eines der anderen Laborparameter erfolgen (simultane Bestimmung, Nachbestimmung des HbA1c-Wertes aus derselben Blutprobe oder zeitversetzte Bestimmung);
- Die Bestätigung durch wiederholte Bestimmung des HbA1c-Wertes ist nicht sinnvoll, da ggf. nicht berücksichtigte beeinflussende Faktoren erneut zu einem verzerrten Ergebnis führen würden.
- Die Bestätigung durch wiederholte Bestimmung der Gelegenheitsplasmaglukose (GPG) wird nicht empfohlen, da diese nicht standardisierbar und damit nicht standardisiert ist.
Die Diagnose wird als bestätigt angesehen, wenn zwei Ergebnisse der Laborwerte (NPG + HbA1c, NPG + GPG, 2x NPG, HbA1c + GPG) im pathologischen Bereich liegen. Die GPG ist nur zur Diagnosestellung zu verwenden, wenn das Ergebnis im eindeutig pathologischen Bereich liegt (siehe auch Minimale Differenz). Ergebnisse von Laborparametern, die in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mittels standardisierter und qualitätsgesicherter Labormethode bestimmt wurden, können zur Diagnose herangezogen werden.
Stellt sich eine Person mit diabetesspezifischen Symptomen vor, ist aus Sicht der Leitliniengruppe ein eindeutig pathologisches Ergebnis eines Laborparameters zur Diagnosestellung ausreichend (zum Vorgehen bei symptomatischen Personen siehe auch Kapitel 4.1.3 Vorgehen bei symptomatischen Personen).
Ergebnisse widersprüchlich und/oder im Bereich des erhöhten Risikos
Sind die Ergebnisse widersprüchlich und/oder liegen im Bereich des erhöhten Risikos, wird von der Leitliniengruppe ein Vorgehen entsprechend der klinischen Situation, des Diabetesrisikos und der therapeutischen Konsequenz empfohlen. Es wird ein dritter Laborwert bestimmt, ggf. wird ein oGTT durchgeführt.
Tabelle 11: Laborkriterien oraler Glukose-Toleranz-Test (oGTT) (modifiziert nach 31013)
Tabelle 11: Laborkriterien oraler Glukose-Toleranz-Test (oGTT) (modifiziert nach 31013)
|
Kein Diabetes (Normale Glukosetoleranz) |
Erhöhtes Risiko für Diabetes |
Diabetes mellitus |
|
---|---|---|---|---|
Abnorme Nüchternplasmaglukose (IFG) |
Gestörte Glukosetoleranz (IGT) |
|||
Plasmaglukose nüchtern |
< 100 mg/dl1 (< 5,6 mmol/l) |
100–125 mg/dl1 (5,6–6,9 mmol/l) |
< 126 mg/dl (< 7,0 mmol/l) |
≥ 126 mg/dl (≥ 7,0 mmol/l) |
2-h nach oraler Glukose |
< 140 mg/dl (< 7,8 mmol/l) |
- |
140–199 mg/dl (7,8–11,0 mmol/l) |
≥ 200 mg/dl (≥ 11,1 mmol/l) |
1 DEGAM, AkdÄ, DGfW und DGP schließen sich den WHO-Grenzwerten für die Nüchternplasmaglukose an: kein Diabetes < 110 mg/dl (< 6,1 mmol/l), erhöhtes Risiko für Diabetes 110–125 mg/dl (6,1–6,9 mmol/l) 30949, 30948, siehe auch im Anhang 9 Abweichende Einschätzungen der Fachgesellschaften. |
Bewertung des oGTT durch die Fachgesellschaften
Position von DEGAM/AkdÄ/DGP zum oGTT
Der oGTT hat nach Einschätzung von DEGAM, AkdÄ und DGP keinen Stellenwert in der Diagnose des Typ-2-Diabetes in der hausärztlichen Praxis. Als Gründe hierfür führen sie den hohen Aufwand, die mäßige Reliabilität sowie eine nur mäßige Validität hinsichtlich diabetesassoziierter Folgeerkrankungen an. Daraus ergibt sich für eine nennenswert große Gruppe von Personen die Gefahr der Medikalisierung, ohne einer kleineren Gruppe eine bessere Behandlung überhaupt zukommen zu lassen. Denn therapeutische Konsequenzen, die über diejenigen in der Folge eines allgemeinen kardiovaskulären Risiko-Assessments hinausgehen, können erfahrungsgemäß nur sehr selten gezogen werden. Die DEGAM, AkdÄ und DGP sehen keinen Stellenwert des oGTTs und einer erweiterten Abklärung von Nüchternplasmaglukosewerten im Grenzbereich.
Position der DDG/DGIM zum oGTT
Der orale Glukose-Toleranz-Test gilt trotz eingeschränkter Reproduzierbarkeit international immer noch als der Goldstandard bzw. Referenztest in der Diagnose eines Diabetes. HbA1c und NPG können nach Einschätzung von DDG und DGIM wegen unzureichender Sensitivität den oGTT nicht vollständig ersetzen. Bei diskrepanten Aussagen der verschiedenen Messgrößen (NPG und HbA1c) oder Ergebnissen im Bereich des erhöhten Risikos (NPG: 5,6–6,9 mmol/l bzw. 100–125 mg/dl; HbA1c 39 – < 48 mmol/mol Hb bzw. 5,7 – < 6,5%) sehen DDG und DGIM daher einen Anlass, den Einsatz des oGTT zu empfehlen. Nur mit einem oGTT ist eine gestörte Glukosetoleranz (IGT) zu diagnostizieren. DDG und DGIM schätzen diese u. a. wegen eines erhöhten kardiovaskulären Risikos als relevant in der Prognose für die Entwicklung diabetes-assoziierter Erkrankungen ein. In der Praxis besteht auch die Möglichkeit, vor einem oGTT zunächst die Plasmaglukose- und HbA1c-Messung zu wiederholen.
4.1.2.2 Diagnosekriterien
Prinzipiell sind aus Sicht der Leitliniengruppe eindeutig pathologische Werte in allen im Algorithmus angegebenen Tests geeignet, einen Diabetes festzustellen, solange die jeweiligen Einschränkungen des Testverfahrens berücksichtigt werden. In einem selektiv eingebrachten Review wurden für den HbA1c-Wert und die Nüchternplasmaglukose eine hohe Spezifität und relativ geringe Sensitivität beobachtet (HbA1c 6,5% bzw. 48 mmol/mol Hb: Sensitivität 50%, Spezifität 97%, Nüchternplasmaglukose 126 mg/dl bzw. 7,0 mmol/l: Sensitivität 59,4%, Spezifität 98,8%, Aussagesicherheit der Evidenz sehr niedrig) 31086.
Die Ergebnisse der Bestimmung von Laborparametern zur Diagnosestellung des Typ-2-Diabetes sind durch patientenspezifische Einflussgrößen, präanalytische Handhabung und/oder Messungenauigkeiten fehleranfällig. Wichtig ist unter anderem die Hemmung der Glykolyse bzw. Zentrifugation bei der Bestimmung der Plasmaglukose, sowie die Berücksichtigung beeinflussender Faktoren auf Seite der Erkrankten (z. B. Stress, Infekte, Medikamenteneinnahme) 32982. Die Vorteile der Laborparameter ergänzen sich, was durch Kombination der Werte die Diagnosesicherheit erhöhen kann.
Tabelle 12: Laborparameter zur Diagnose des Typ-2-Diabetes
Tabelle 12: Laborparameter zur Diagnose des Typ-2-Diabetes
Laborparameter |
Vorteile |
Nachteile |
---|---|---|
NPG |
|
|
HbA1c |
|
|
oGTT |
|
|
GPG |
|
|
NPG: Nüchternplasmaglukose; oGTT: oraler Gukose-Toleranz-Test, GPG: Gelegenheitsplasmaglukose Die Tabelle beruht auf der klinischen Erfahrung der Leitliniengruppe. |
Plasmaglukose
Die Bestimmung der venösen Plasmaglukose für die Diagnosestellung des Diabetes soll nur mit qualitätskontrollierten Labormethoden erfolgen (siehe Empfehlung 4-3). Geräte zur Selbstmessung der Plasmaglukose eignen sich aus Sicht der Leitliniengruppe hierfür nicht 22925. Es ist auf geeignete Blutentnahmeröhrchen und das korrekte präanalytische Prozedere zu achten, was rückwirkend nicht immer überprüft werden kann 32982, 29158. Selbst bei Anwendung exakter Labormethoden ist zu bedenken, mit welcher Genauigkeit ein Plasmaglukosewert gemessen werden kann (siehe Minimale Differenz).
Zur Bestimmung der Nüchternplasmaglukose wird eine Nahrungskarenz von der ADA und der WHO von mindestens 8 Stunden (maximal 12 Stunden) empfohlen 32982. Sowohl für die Bestimmung der Nüchternplasmaglukose als auch die Durchführung des oGTT ist es wichtig, den Tagesrhythmus des/der Betroffenen bei der Wahl des Untersuchungszeitpunktes bzw. bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen (z. B. Schichtarbeit).
Die Bestimmung der Gelegenheitsplasmaglukose ist nicht standardisiert und eignet sich daher aus Sicht der Leitliniengruppe zur Bestätigung, aber nicht zum Ausschluss der Diagnose. Zur Bestätigung der Diagnose Diabetes wird die GPG nur herangezogen, wenn das Ergebnis sicher im pathologischen Bereich liegt.
Die Durchführung des oralen Glukose-Toleranz-Tests ist in Tabelle 13 dargestellt.
Tabelle 13: Durchführung des oralen Glukose-Toleranz-Tests
Oraler Glukose-Toleranz-Test 75g nach Richtlinien der WHO (modifiziert nach 32982) |
---|
Testdurchführung am Morgen
|
Zum Zeitpunkt 0 Trinken von 75 g Glukose in 250–300 ml Wasser innerhalb von 5 min.
|
Zur Auswertung des oGTT siehe Tabelle 11. Der Stellenwert des oralen Glukose-Toleranz-Tests wird von den Fachgesellschaften unterschiedlich eingeschätzt (siehe Bewertung des oGTT durch die Fachgesellschaften).
HbA1c
Der HbA1c reflektiert die mittleren Plasmaglukosewerte der letzten 8 bis 12 Wochen. Multiple Interferenzen begrenzen den Einsatz zur Diagnostik. Beeinflussende Faktoren sind in Tabelle 14 dargestellt. HbA1c-Werte sind nur aussagekräftig, wenn mit hinreichender Sicherheit keine Störfaktoren oder Einflussgrößen nachgewiesen wurden. Nach Einschätzung der Leitliniengruppe gibt es bezogen auf eine eingeschränkte Nieren- oder Leberfunktion keine eindeutigen Cut-off-Werte, ab wann eine Funktionsstörung zu "falsch" niedrigen Werten führt.
Tabelle 14: Beeinflussende Faktoren HbA1c-Wert
Beeinflussende Faktoren (nach 23863, 32982, 30947) |
|
---|---|
"Falsch" hohe Werte von HbA1c können verursacht werden durch |
|
"Falsch" niedrige Werte von HbA1c können verursacht werden durch |
|
Altersabhängige Gewichtung des HbA1c-Wertes als Diagnosekriterium: Der HbA1c-Wert steigt auch bei Menschen ohne Diabetes mit zunehmendem Alter an. Der Referenzbereich (2,5%- bis 97,5%-Perzentile) für HbA1c-Werte von nicht diabetischen Erwachsenen in zwei großen Kollektiven aus Deutschland ist in Tabelle 15 dargestellt.
Der HbA1c-Wert hat als Diagnosekriterium für Menschen ≥ 60 Jahren ein geringeres Gewicht. Für Ergebnisse nahe des diagnostischen Grenzwertes von 6,5% (6,5–7,0%) ist insbesondere in dieser Altersgruppe die Aussagekraft eingeschränkt, um eine Diagnose zu bestätigen.
Tabelle 15: Altersabhängige Referenzbereiche (2,5- bis 97,5-Perzentile) für HbA1c-Werte für nicht-diabetische Erwachsene in zwei Kollektiven in Deutschland (nach 32982)
Alter |
Roth J et al., 2016 (n = 6 783) |
Masuch A et al., 2019 (>n = 8 665) |
---|---|---|
< 40 Jahre |
4,6–5,9% (27–41 mmol/mol) |
4,0–6,0% (20–42 mmol/mol) |
40 < 60 Jahre |
4,8–6,2% (29–44 mmol/mol) |
4,1–6,2% (21–44 mmol/mol) |
≥ 60 Jahre |
5,0–6,4% (31–46 mmol/mol) |
4,4–6,6% (25–49 mmol/mol) |
Mehrere Hämoglobin-Varianten (z. B. Hämoglobin S, C, D und E) und chemisch modifizierte Hämoglobin-Derivate stören einige Testmethoden, unabhängig von etwaigen Auswirkungen aufgrund einer verkürzten Überlebenszeit der Erythrozyten. Je nach Hämoglobinopathie und Bestimmungsmethode können die Ergebnisse entweder falsch erhöht oder falsch erniedrigt sein (32867 selektiv eingebrachte Literatur).
Es ist wichtig zu betonen, dass HbA1c nicht bei Personen mit homozygoten Hämoglobinvarianten (z. B. HbSS, HbCC, HbEE) oder zwei Hämoglobinvarianten, wie HbSC, gemessen werden kann; sie haben kein HbA und daher auch kein HbA1c.
Für einige Hämoglobinopathien gibt es Endemiegebiete mit einem hohen Anteil an Anlageträgern. Durch die Einwanderung von Menschen aus Endemiegebieten nach Europa ist anzunehmen, dass die Berücksichtigung von Hämoglobinvarianten zukünftig eine zunehmend größere Rolle spielen wird 32917, 32916.
4.1.2.3 Ausschluss der Diagnose
Abweichende Einschätzungen der Fachgesellschaften zur Ausschlussdiagnostik
Bezüglich der Relevanz und Notwendigkeit der Ausschlussdiagnose haben die Fachgesellschaften unterschiedliche Einschätzungen (siehe auch Anhang 9).
DDG und DGIM
Aus Sicht der DDG und DGIM ist die Bestimmung von mindestens zwei Laborparametern im Normbereich notwendig, um die Diabetesdiagnose zum aktuellen Zeitpunkt ausreichend zuverlässig auszuschließen. Empfohlen wird die Bestimmung der NPG und des HbA1c-Wertes. Eine Kombination zweier anderer Laborparameter (NPG + GPG oder GPG + HbA1c) oder zwei Ergebnisse eines Laborparameters im Normbereich (2x NPG, 2x HbA1c, 2x GPG) eignen sich aus Sicht der Fachgesellschaften hierzu nicht.
Begründung: Die Bestimmung der Gelegenheitsplasmaglukose kann aufgrund der fehlenden Standardisierung nicht zum Ausschluss der Diagnose herangezogen werden. Eine wiederholte Messung des HbA1c-Wertes wird aufgrund der Vielzahl beeinflussender Faktoren als alleiniges Diagnosekriterium nicht empfohlen. Wird nur die NPG zweimalig bestimmt, besteht nach Einschätzung der DDG und DGIM die Gefahr, einen Teil der Patient*innen im frühen Stadium der Erkrankung zu übersehen. Bei hochgradigem klinischen Verdacht auf eine Diabeteserkrankung ist der hinreichende Ausschluss einer Glukosestoffwechselstörung aus Sicht der DDG und DGIM nur durch einen oGTT möglich.
DEGAM und AkdÄ
DEGAM und AkdÄ sehen die einmalige Bestimmung einer normwertigen NPG als ausreichend an, um eine therapeutisch relevante Blutglukosestoffwechselstörung zum aktuellen Zeitpunkt auszuschließen. Nur bei hochgradigem klinischen Verdacht auf einen Diabetes mellitus (typische Diabetessymptome, Erkrankungen, die auch Folge eines Diabetes sein können) soll ein weiterer Wert bestimmt werden.
Folgende Kombinationen sind hierfür aus Sicht der DEGAM und AkdÄ sinnvoll:
- NPG + NPG (zweizeitig), NPG + HbA1c
Liegen aus anderen Gründen folgende Kombinationen, NPG + GPG; HbA1c + GPG, vor – so reicht aus Sicht der Vertreter*innen der DEGAM und AkdÄ auch dies zum Ausschluss einer Diabeteserkrankung.
4.1.3 Vorgehen bei symptomatischen Personen
Auf Basis ihrer klinischen Erfahrung und guter klinischer Praxis spricht die Leitliniengruppe konsensbasiert eine starke Empfehlung aus. Die Stärke der Empfehlung ist in der klinischen Dringlichkeit zum Ausschluss eines abwendbar gefährlichen Verlaufs begründet. Hinweis auf Schaden durch das empfohlene Vorgehen wird nicht gesehen.
Evidenzbasis und Versorgungsproblem
Die Empfehlung wird konsensbasiert ausgesprochen. Sie basiert auf klinischer Erfahrung der Leitliniengruppe und guter klinischer Praxis. Diabetesspezifische Symptome können auf einen medizinischen Notfall hinweisen, aus dem sich akuter Behandlungsbedarf ergibt. Dies gilt sowohl für Personen ohne bekannte Diagnose eines Diabetes als auch Personen, bei denen die Diagnose bereits gestellt wurde.
Erwägungen, die die Empfehlung begründen
Bestehen bei einer Person Symptome, die für einen Diabetes sprechen (Gewichtsverlust, Bauchschmerzen, neu aufgetretene Visusstörungen, Abgeschlagenheit, Polydipsie und Polyurie) besteht eine hinreichend hohe Vortestwahrscheinlichkeit und dringlicher Handlungsbedarf. Daher empfiehlt die Leitliniengruppe, umgehend eine Blutglukosebestimmung (patientennahe Sofortdiagnostik, "Streifentest") und eine Urinuntersuchung (Streifentest) auf Glukose und Ketone durchzuführen. Bestimmungen der Plasmaglukose bzw. des HbA1c-Wertes mittels standardisierter und qualitätsgesicherter Labormethoden (siehe Empfehlung 4-3) ergänzen die Diagnostik bei Erstdiagnose, spielen aber für die Akutsituation zunächst eine untergeordnete Rolle, da die Ergebnisse nicht unmittelbar vorliegen und zur Therapieplanung genutzt werden können. Die Bestimmung der Ketone im Urin ist insbesondere dann wichtig, wenn ein Typ-1-Diabetes mit absolutem Insulinmangel nicht ausgeschlossen werden kann. So kann beispielsweise durch eine Tumortherapie mit Immuncheckpoint-Inhibitoren ein Autoimmundiabetes mit absolutem Insulinmangel und Ketoazidose bei Erstmanifestation auftreten (siehe zum Beispiel auch 32934, 32933, selektiv eingebrachte Literatur). Ist die Urinuntersuchung beispielsweise bei immobilen, älteren Personen schwierig und nach klinischer Einschätzung die Gefahr einer übersehenen Ketoazidose gering, ist aus Sicht der Leitliniengruppe vertretbar, auf die Untersuchung des Urins zu verzichten, sofern nicht gleichzeitig der Verdacht auf einen Harnwegsinfekt als Hyperglykämieauslöser vorliegt.
Bei Personen unter Therapie mit SGLT2-Inhibitoren oder Krebspatient*innen unter Therapie mit Checkpoint-Inhibitoren kann zusätzlich eine Bestimmung der Ketone im Serum sinnvoll sein, da bedingt durch den Wirkmechanismus der Gliflozine in einigen Fällen trotz Ketoazidose keine Ketonurie nachweisbar sein kann 29010.
Ist bei der Person ein Diabetes bekannt, erfolgt die weitere Labordiagnostik (z. B. HbA1c-Bestimmung) in Abhängigkeit der bereits vorliegenden Werte. Aus Sicht der Leitliniengruppe ist bei Personen mit diabetesspezifischen Symptomen ein eindeutig pathologisches Ergebnis eines Laborparameters zur Diagnosestellung ausreichend.
Therapeutische Maßnahmen für den Fall einer symptomatischen Hyperglykämie werden im noch zu erstellenden Kapitel Notfälle beschrieben.
4.1.4 Differentialdiagnose des Typ-2-Diabetes
Bezogen auf die Erkrankung "Diabetes mellitus" werden derzeit gemäß der ätiologischen Klassifikation der American Diabetes Association (ADA) vier Hauptkategorien unterschieden 31013, 31029:
- Typ-1-Diabetes (in Folge einer autoimmunen Beta-Zell-Destruktion, welche in der Regel zu einem absoluten Insulinmangel führt) Subform: idiopathisch;
- Typ-2-Diabetes (aufgrund eines progressiven Verlusts der Insulin-Sekretion der Beta-Zelle, häufig vor dem Hintergrund einer Insulinresistenz);
- andere spezifische Diabetes-Typen (Subtypen A: Genetische Defekte der Beta-Zell-Funktion; B: genetische Defekte der Insulinwirkung; C: Erkrankung des exokrinen Pankreas, D: Diabetes durch Endokrinopathien; E: Medikamenten- oder chemikalieninduziert; F: Diabetes durch Infektionen; G: Seltene Formen des immunvermittelten Diabetes; H: andere gelegentlich mit Diabetes assoziierte genetische Syndrome);
- Gestationsdiabetes (erstmals in der Schwangerschaft mit einem 75 g oralen Glukose-Toleranz-Test diagnostizierte Glukosetoleranzstörung).
(Aufzählung zitiert nach 30336)
Tabelle 16 bietet eine Übersicht zur klinischen Differenzialdiagnose primärer Diabetesformen sowie der dazu unterschiedlichen Therapieansätze 21666, 30950.
Tabelle 16: Übersicht zur klinischen Differenzialdiagnose primärer Diabetes-Formen (mod. nach 21666, 30950)
Tabelle 16: Übersicht zur klinischen Differenzialdiagnose primärer Diabetes-Formen (mod. nach 21666, 30950)
|
Typ-1-Diabetes |
Typ-2-Diabetes |
MODY (verschiedene Typen) |
---|---|---|---|
Ätiologie |
autoimmun, genetische Prädisposition |
genetische Prädisposition, multifaktoriell |
monogen |
Vererbung |
variabel |
variabel |
autosomal-dominant |
Häufigkeit von allen Diabetestypen |
5–10% |
90–95% |
1–2% |
Pathogenese |
autoimmun, absoluter Insulinmangel |
Insulinresistenz und -sekretionsstörung bis zum Insulinmangel |
Mutationen in Genen der Transkriptionsfaktoren der Betazelle, "Loss-of-function-Mutation" der Glukokinase |
Typisches Manifestationsalter |
Kindes- bis Erwachsenenalter |
Erwachsenenalter |
Jugend- bis frühes Erwachsenenalter |
Klinische Manifestation |
akut, Polyurie, Polydipsie, schwere Hyperglykämie, Ketoazidose, Gewichtsverlust |
langsamer Beginn, Folgeerkrankungen, moderate Hyperglykämie |
langsamer Beginn, Hyperglykämie variabel |
Häufige Begleiterkrankungen |
Autoimmunerkrankungen (z. B. Autoimmunthyreoiditis, Zöliakie, Autoimmungastritis) |
viszerale Adipositas, Bluthochdruck, Diabetes (auch metabolisches Syndrom genannt) |
Nierenzysten u. a. |
Neigung zur Ketose |
Ja |
Nein |
Nein |
Plasmainsulin/ |
vermindert bis fehlend |
zu Beginn oft erhöht, dann vermindert |
meist vermindert |
Autoantikörper |
Zumeist ja (Inselzellantikörper (ICA), Insulinautoantikörper (IAA), Autoantikörper gegen Glutamat-Decarboxylase der B-Zelle (GAD65A), gegen die Tyrosinphosphatase (IA-2) und IA-2ß; Autoantikörper gegen den Zink Transporter 8 der B-Zelle (ZnT8), siehe auch 32982, 30336) |
zumeist Nein |
zumeist Nein |
Therapie |
Insulin |
lebensstilmodifizierende Maßnahmen, orale Antidiabetika, subkutan (s.c.) zu verabreichende GLP-1-Rezeptoragonisten, Insulin |
orale Antidiabetika, Insulin (je nach MODY-Typ) |
Bei übergewichtigen Menschen im Erwachsenenalter mit Erstdiagnose eines Diabetes mellitus kann der Arzt/die Ärztin in der Regel zunächst von einem Typ-2-Diabetes ausgehen. Die Diagnose wird gestützt durch eine positive Familienanamnese und das klinische Bild (viszerale Adipositas, Bluthochdruck, Diabetes mellitus (auch metabolisches Syndrom genannt), schleichend verlaufende, symptomarme Manifestation ohne Ketose). Allerdings ist aus Sicht der Leitliniengruppe wichtig zu berücksichtigen, dass sich das klassische Erscheinungsbild der verschiedenen Diabetestypen im Laufe der Zeit gewandelt hat. Ein alleiniger Rückschluss von der Körperkonstitution auf den Diabetestyp scheint aus klinischer Erfahrung der Leitliniengruppe nicht zeitgemäß, insbesondere da auch Personen mit Typ-1-Diabetes übergewichtig und Personen mit Typ-2-Diabetes schlank sein bzw. wirken können (siehe auch Weiterführende Informationen: Sarkopene Adipositas und sekundäre Sarkopenie).
Dem Typ-2-Diabetes liegt pathophysiologisch eine Insulinresistenz in Verbindung mit einer gestörten Insulinsekretion zugrunde. Im Krankheitsverlauf nimmt die endogene Insulinsekretion jedoch ab und kann in der Spätphase zum Erliegen kommen, was auch die Therapiewahl beeinflusst.
Differenzialdiagnostisch ist an einen sich verzögernd manifestierenden Typ-1-Diabetes mellitus (Latenter Autoimmundiabetes im Erwachsenenalter = LADA) oder an einen Maturity onset diabetes of the young (= MODY) zu denken. Etwa 1 bis 2% (mit einer hohen Dunkelziffer) der Menschen mit "Typ-2-Diabetes" (typischerweise jung (ca. 25 Lebensjahre und früher) und starkes familiäres Vorkommen (Diabetes in drei Generationen)) haben in Wirklichkeit einen MODY-Diabetes, von dem mehrere therapierelevante Subgruppen und ein autosomal dominanter Erbgang bekannt sind 30950, 22010, 32799. Er kann durch den molekulargenetischen Nachweis charakteristischer Gendefekte identifiziert werden.
Weiterführende Informationen: Sarkopene Adipositas und sekundäre Sarkopenie
Im Zusammenhang mit Übergewicht rückt zunehmend der Begriff der sarkopenen Adipositas in den Fokus. Menschen mit sarkopenischer Adipositas können durchaus normalgewichtig oder "nur" übergewichtig sein bzw. wirken und ihre relativ geringe Muskelmasse durch eine höhere Fettmasse überdeckt werden. Auf Basis eines Expertenkonsens schlagen die European Society for Clinical Nutrition and Metabolism (ESPEN) und die European Association for the Study of Obesity (EASO) vor, dass die sarkopene Adipositas als die Koexistenz von Adipositas und geringer Muskelmasse/-funktion definiert wird 32937. Zu den klinischen Symptomen oder Verdachtsfaktoren, die ein Screening bzgl. Vorliegen einer sarkopenischen Adipositas aus Sicht der Autor*innen des Expertenkonsenses rechtfertigen, zählen u. a. endokrine Erkrankungen, wie auch Diabetes 32937. Von der Europäischen Arbeitsgruppe für Sarkopenie bei älteren Menschen (EWGSOP) wurde 2018 die Definition der Sarkopenie um die sogenannte sekundäre Sarkopenie unter Berücksichtigung möglicher Faktoren, die die Muskelquantität und -qualität verschlechtern wie (chronische) Krankheiten, Inaktivität und schlechte Ernährungsformen ergänzt 32936.
4.2 Kommunikation der Diagnose
Wer die Diagnose einer chronischen Erkrankung erhält, kann sowohl die Diagnose selbst wie auch die damit verbundenen empfohlenen Lebensstiländerungen als Beeinträchtigung der Lebensqualität empfinden. Gleichzeitig sind insbesondere im Grenzbereich liegende Laborwerte mit Unsicherheit behaftet. Daraus leitet sich nach Einschätzung der Leitliniengruppe die Verpflichtung zu einer behutsamen und wertschätzenden Übermittlung der Diagnose ab. Das persönliche Gespräch stellt sicher, dass die Ärztin oder der Arzt Fragen der Betroffenen direkt beantworten und mögliche Sorgen angemessen auffangen können, indem sie Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Die Berücksichtung der diagnostischen Unsicherheit kann dazu beitragen, weniger apodiktisch zu kommunizieren und damit die Perspektive der Selbstwirksamkeit und Veränderung aufzuzeigen. Dies leitet sich auch aus den Prinzipien der Fürsorge und der Autonomie ab. Da die Leitliniengruppe zudem kein Schadenspotential sieht, spricht sie eine starke Empfehlung aus. Davon unberührt sind die therapeutischen Konsequenzen, die sich aus dem jeweiligen Befund ergeben.
Evidenzbasis
Die Empfehlung wurde konsensbasiert ausgesprochen. Sie beschreibt gute klinische Praxis und beruht – neben den ethischen Prinzipien der Fürsorge und der Autonomie – indirekt auch auf der epidemiologischen Evidenz zur altersbedingten Veränderung der HbA1c-Werte (siehe Tabelle 15) und allgemein der Messgenauigkeit der Laborparameter (siehe Kapitel 4.1.2 Labordiagnostik).
4.3 Überprüfung der Diagnose
Da kein Schadenspotential gesehen wird und der Nutzen bezüglich Validierung der Diagnose und individueller Anpassung an veränderte Situationen besteht, spricht die Leitliniengruppe konsensbasiert eine starke Empfehlung aus. Dadurch lässt sich insbesondere das Risiko einer nicht mehr angemessenen Therapie und deren Nebenwirkungen reduzieren. Dies entspricht auch dem Prinzip der Schadensvermeidung. Aus ihrer klinischen Erfahrung nimmt die Leitliniengruppe als Versorgungsproblem wahr, dass einmal gestellte Diagnosen zu selten reevaluiert werden. Hinweise hierauf ergeben sich auch aus den Daten des DMP-Programms. Die Relevanz des Versorgungsproblems und die Verpflichtung zur Schadensvermeidung begründen den starken Empfehlungsgrad.
Evidenzbasis und Versorgungsproblem
Die Empfehlung wird konsensbasiert ausgesprochen. Die Diagnoseparameter lassen – abgesehen vom HbA1c-Wert, der den Blutglukosespiegel der letzten 8 bis 12 Wochen wiederspiegelt – nur eine Aussage zum aktuellen Zeitpunkt zu und werden von vielen Faktoren beeinflusst (siehe Tabelle 12). Nach Daten des DMP-Qualitätsberichts Nordrhein aus 2019 erreichen 35,4% der Betroffenen < 70 Jahren und 39,2% der Betroffenen ≥ 70 Jahren einen HbA1c-Wert von weniger als 6,5% (48 mmol/mol), also unterhalb des Grenzwertes zur Diagnosestellung für diesen Parameter. Aus Sicht der DDG/DGIM ist allerdings anzumerken, dass ein einzelner HbA1c-Wert nicht ausreichend ist, um einen Diabetes sicher auszuschließen. Die beeinflussenden Faktoren und multiplen Interferenzen sind zu berücksichtigen (siehe auch Kapitel 4.1.2.2 Diagnosekriterien). 31% aller im DMP eingeschriebenen Patient*innen werden allein durch nicht-medikamentösen Maßnahmen behandelt 31562.
Erwägungen, die die Empfehlung begründen
Ergeben sich im Verlauf der Therapie Hinweise darauf, dass sich die Erkrankung zum aktuellen Zeitpunkt in Remission befindet, soll die Therapie und Diagnose überprüft werden. Dies ist beispielsweise möglich, wenn die Laborparameter in den Verlaufsuntersuchungen auch ohne therapeutische Maßnahmen im Normbereich liegen. Der Nutzen für die Erkrankten liegt in dem potentiellen Wegfall einer belastenden Diagnose. Ein möglicher Schaden wird nicht angenommen, wenn sich der Patient bzw. die Patientin weiterhin in regelmäßiger Betreuung befindet und die zuvor bestehende Stoffwechselstörung für zukünftige Situationen dokumentiert ist (z. B. Therapie mit Glukokortikoiden). Die DDG spricht in einem solchen Fall von Diabetes in Remission.
4.4 Screening auf Folge- und Begleiterkrankungen
Empfehlung |
|
---|---|
4-8 | e | modifiziert 2023 Menschen mit Typ-2-Diabetes sollen bei der Erstdiagnose und dann in regelmäßigen zeitlichen Abständen strukturierte und wenn zutreffend seitenvergleichende Untersuchungen auf Folge- und Begleiterkrankungen erhalten. (Details siehe Tabelle 17 und Tabelle 21). |
|
4-9 | k | neu 2023 Die erhobenen Befunde sollen dokumentiert und mit den Betroffenen besprochen werden und in die Therapie einfließen (siehe auch Kapitel 2 Partizipative Entscheidungsfindung (PEF) und Teilhabe in allen relevanten Lebensbereichen). |
Durch die strukturierte und regelmäßige Untersuchung auf Folge- und Begleiterkrankungen lassen sich diese frühzeitig erfassen und therapeutisch angehen. Den Nutzen sieht die Leitliniengruppe in der Chance, einen Progress der Erkrankungen hinauszuzögern bzw. zu verhindern und so die Lebenszeit zu verlängern und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Die in der themenübergreifenden strukturierten Recherche identifizierten Übersichtsarbeiten erlauben es nicht, die Fragestellung nach dem Nutzen eines Screenings auf Folge- und Begleiterkrankungen in Bezug auf patientenrelevante Endpunkte zu beantworten. Dieser scheint aber zumindest indirekt durch Evidenz zum Nutzen der nicht-medikamentösen und medikamentösen Therapie plausibel. Dem potentiellen Nutzen einer frühzeitig eingeleiteten Therapie gegenüber stehen Schäden durch einen vermehrten zeitlichen Aufwand und Ressourcenverbrauch auf Seiten der Betroffenen und Behandelnden, sowie sich anschließende Folgeuntersuchungen und Therapien, die ggf. ohne Vorteil für die Betroffenen sind. Diese Schäden lassen sich durch eine leitliniengerechte Diagnostik insbesondere unter Berücksichtigung der jeweiligen Limitationen der erhobenen Parameter, eine kritische Diagnosestellung, eine angemessene Risikokommunikation und eine wertschätzende, motivierende Kommunikation der Diagnose mindern (siehe auch Kapitel 2 Partizipative Entscheidungsfindung (PEF) und Teilhabe in allen relevanten Lebensbereichen und Kapitel 4.2 Kommunikation der Diagnose). Aufgrund der Abwägung zwischen Nutzen und Schaden sowie epidemiologischen Daten zur Prävalenz von Folge- und Begleiterkrankungen spricht die Leitliniengruppe eine starke Empfehlung aus.
Die erhobenen Befunde zu dokumentieren und mit den Betroffenen zu besprechen, entspricht guter klinischer Praxis und auch den im Kapitel 2 Partizipative Entscheidungsfindung (PEF) und Teilhabe in allen relevanten Lebensbereichen beschriebenen ethischen Prinzipien und Prinzipien der Patient*innenautonomie. Die Dokumentation der Befunde erlaubt zudem eine Verlaufsbeurteilung.
DDG und DGIM sprechen sich für eine strukturierte Dokumentation der Befunde z. B. mithilfe standardisierter Dokumentationsbögen aus. Potentiellen Nutzen sehen die Fachgesellschaften in einer Erleichterung für die betreuenden Ärztinnen/Ärzte, einer Verbesserung der Versorgung der Betroffenen durch das strukturierte Vorgehen, bei dem keine Aspekte vergessen werden und eine Vergleichbarkeit über den Krankheitsverlauf gewährleistet wird, sowie in der Möglichkeit, Daten über die tatsächliche Prävalenz von Folge- und Begleiterkrankungen und die Versorgungsqualität von Personen mit Diabetes in Deutschland zu erhalten.
Evidenzbasis und Versorgungsproblem
Die Empfehlungen beruhen auf epidemiologischen Daten zu Prävalenz und Risikofaktoren, guter klinischer Praxis und indirekter Evidenz zum Nutzen therapeutischer Maßnahmen bei bestehender Erkrankung. Die Empfehlungen der bisherigen Auflagen der NVL zum Thema Diabetes und die dort dargestellte Evidenz waren Grundlage der Diskussion in der Leitliniengruppe 30867, 23863, 24738, 26174, 25602, 24679. Ergebnisse der themenübergreifenden strukturierten Recherche wurden ebenfalls mitberücksichtigt.
Die Leitliniengruppe nimmt als Versorgungsproblem wahr, dass bei einem Teil der Betroffenen die Folge- und Begleiterkrankungen nicht bekannt sind. Gestützt wird diese Annahme durch Evidenz aus epidemiologischen Daten und Ergebnissen von Aufklärungsinitiativen. Aufgrund ihrer klinischen Erfahrung kommt die Leitliniengruppe zur Einschätzung, dass die Untersuchungen teilweise nicht strukturiert durchgeführt werden und die unzureichende Dokumentation den interdisziplinären Austausch erschwert. Eine Besprechung der erhobenen Befunde findet nicht immer statt.
4.4.1 Screeningintervalle
Tabelle 17: Screeningintervalle für Untersuchungen auf Folge- und Begleiterkrankungen bei Menschen mit Typ-2-Diabetes, bei denen diese nicht vorliegen oder nicht bekannt sind
Screening auf |
Zeitintervall |
---|---|
Neuropathie |
Wenn eine Neuropathie bislang nicht nachgewiesen ist, alle ein bis zwei Jahre nach individueller Risikoeinschätzung (siehe Tabelle 18). |
Fußläsionen |
Wenn Fußläsionen bislang nicht nachgewiesen sind
Siehe Tabelle 19 |
Nephropathie bei Diabetes |
Wenn eine Nephropathie bislang nicht nachgewiesen ist, einmal jährlich. |
Retinopathie bei Diabetes |
Wenn eine diabetische Netzhautveränderung bislang nicht nachgewiesen ist, risikoadaptiert:
Sind die allgemeinen Risikofaktoren nicht bekannt, wie bei ungünstigem allgemeinen Risikoprofil. Siehe Tabelle 20 |
Depressive Störungen und andere psychische Komorbiditäten (z. B. Ess- oder Angststörungen, kognitive Einschränkungen) |
Einmal jährlich oder anlassbezogen. Bei positivem Screeningergebnis soll eine umfassende Abklärung erfolgen. |
Risikoabschätzung |
Zeitintervall |
Abschätzung des kardiovaskulären Risikos (z. B. KHK, Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern) |
Einmal jährlich oder anlassbezogen. |
Die in Tabelle 17 angegebenen Intervalle wurden auf Basis epidemiologischer Daten, Evidenz zu den Risikofaktoren und dem Verlauf diabetischer Folge- und Begleiterkrankungen, indirekter Evidenz zum Nutzen der nicht-medikamentösen und medikamentösen Therapie der entsprechenden Erkrankungen und pragmatischen Überlegungen zur regelmäßigen Verlaufsbeurteilung und Therapieplanung gewählt. Ausgangspunkt der Überlegungen waren die vorherigen Auflagen der NVL zum Themenbereich Diabetes 23863, 24738, 26174, 25602, 24679 mit der dort recherchierten Evidenz. Die Gruppe sah in vielen Fällen keinen Grund von den bisher empfohlenen Screeningintervallen abzuweichen. In der aktuellen themenübergreifenden strukturierten Recherche nach aggregierter Evidenz wurden keine neuen Publikationen identifiziert, die für ein abweichendes Vorgehen sprechen.
Screeningintervalle, die in Tabelle 17 angegeben werden, beziehen sich ausdrücklich nur auf Personen mit Diabetes, bei denen die jeweiligen Folge- bzw. Begleiterkrankungen nicht vorliegen bzw. nicht bekannt sind. Die weiterführende Diagnostik, die bei auffälligen Screeninguntersuchungen (Tabelle 21) erfolgen soll, wird im Kapitel Folge- und Begleiterkrankungen beschrieben (folgt). Kontrollintervalle bei vorliegender Erkrankung werden ebenfalls dort beschrieben.
4.4.1.1 Evidenzbeschreibung und Erwägungen, die die Screeningintervalle begründen
Epidemiologische Daten zu den einzelnen Erkrankungen und Risikofaktoren werden im Kapitel 1 Epidemiologie beschrieben. Indirekte Evidenz zum Nutzen der nicht-medikamentösen und medikamentösen Therapie werden in den vorherigen NVL zum Themenbereich Diabetes 30867, 23863, 24738, 26174, 25602, 24679, in der NVL Chronische KHK 32809, der NVL Chronische Herzinsuffizienz 31656 und in der NVL Unipolare Depression 32922 beschrieben.
Neuropathie
Zur Begriffserläuterung, siehe Weiterführende Informationen: diabetische Neuropathie.
Den Nutzen regelmäßiger Screeninguntersuchungen auf eine diabetische sensomotorische Polyneuropathie (DSPN) sieht die Leitliniengruppe insbesondere in dem präventiven Potential in Bezug auf das diabetische Fußsyndrom. Gemäß der klinischen Erfahrung der Leitliniengruppe werden vor allem Menschen mit einer schmerzlosen diabetischen sensomotorischen Polyneuropathie häufig nicht auf Eigeninitiative ärztlich vorstellig, da sie keine Symptome bemerken. Gleichzeitig besteht bei dieser Gruppe ein erhöhtes Risiko einer schmerzlosen, unbemerkten Fußverletzung. Ein darüber hinaus gehender Nutzen wird in der frühzeitigen Diagnose mit Möglichkeit zur Einleitung einer entsprechenden Therapie und der Risikoeinschätzung in Bezug auf weitere Erkrankungen gesehen. Potentielle Schäden sieht die Gruppe in einer möglichen Überdiagnostik mit sich anschließenden Folgeuntersuchungen und Therapien, die ggf. ohne Vorteil für die Betroffenen sind.
Basierend auf epidemiologischen Daten, Evidenz zu Risikofaktoren und ihrer klinischen Erfahrung empfiehlt die Gruppe eine risikoadaptierte Wahl des Screeningsintervalls. Die Prävalenzschätzungen aus Routine- und Surveillance-Daten variieren zwischen 14% und 28% 30139. Die Prävalenz steigt dabei mit zunehmendem Alter und zunehmender Erkrankungsdauer an 32438 (siehe auch Kapitel 1 Epidemiologie). Daten aus einer nationalen Aufklärungsinitiative zur diabetischen Neuropathie legen nahe, dass einem Teil der Menschen mit Typ-2-Diabetes und distaler sensomotorischer Neuropathie die Neuropathie nicht bekannt ist (32071 selektiv eingebrachte Literatur).
Ist das Risiko nach individueller Risikoeinschätzung durch den Arzt/die Ärztin erhöht, wird – wie in der vorherigen NVL beschrieben – ein jährliches Screeningintervall empfohlen 25602. Wichtige ausgewählte Risikofaktoren zeigt Tabelle 18. Tabelle 18 beruht auf einem Expertenkonsens auf Basis epidemiologischer Daten, klinischer Erfahrung der Leitliniengruppe und wird durch selektiv von der Leitliniengruppe eingebrachte Literatur gestützt 32107, 32128, 31585. Der individuellen Risikoeinschätzung des behandelnden Arztes/der behandelnden Ärztin kommt aus Sicht der Leitliniengruppe eine große Bedeutung zu.
Tabelle 18: Wichtige ausgewählte Risikofaktoren der diabetischen Neuropathie zur Wahl des Screeningintervalls
Wichtige ausgewählte Risikofaktoren der diabetischen Neuropathie zur Wahl des Screeningintervalls |
---|
|
Die hier aufgeführten Faktoren beruhen auf epidemiologischen Daten (Assoziation des Alters, der Erkrankungsdauer und der Prävalenz der Folgeerkrankungen) und der klinischen Erfahrung der Leitliniengruppe. Die Reihenfolge der Aufzählung stellt keine Gewichtung dar. Die individuelle Wahl des Untersuchungsintervalls auf eine diabetische Neuropathie ergibt sich aus der Zusammenschau der klinischen Faktoren und deren Einschätzung durch den behandelnden Arzt bzw. die behandelnde Ärztin. |
In einer selektiv eingebrachten prospektiven Kohortenstudie wurde eine kumulative Inzidenz der diabetischen Polyneuropathie bei Teilnehmenden mit Erstdiagnose eines Screening-detektierten Diabetes über 13 Jahre von 10% angegeben 31567. Von den initial 1 445 Teilnehmenden, die zu Beginn der Studie einen validierten Fragebogen zum Screening auf eine diabetische Neuropathie (Michigan Neuropathy Screening Instrument questionnaire) ausgefüllt hatten, lag bei 189 (13,1%) gemäß der angewendeten Kriterien (MNSIQ ≥ 4) bereits eine diabetische Polyneuropathie vor. Die verbleibenden 1 256 Teilnehmenden erhielten den Fragebogen einige Jahre später erneut (nach: median 6,1 Jahren, 11,4 Jahren und 12,8 Jahren). Es wurde eine kumulative Inzidenz von 10% (n = 78) über 13 Jahre und eine korrespondierende Inzidenz pro Jahr von 0,7% (7 Fälle/1 000 Patientenjahre) berechnet. Als mögliche Gründe für die vergleichsweise niedrige Inzidenz im Rahmen der Studie wird von den Studienautoren aufgeführt, dass bei den Teilnehmenden der Diabetes im Rahmen eines Screenings diagnostiziert wurde und davon auszugehen ist, dass die Erkrankung noch nicht so lange bestand, wie bei einer Diagnose aufgrund von Symptomen. Die HbA1c-Werte waren in der Studie relativ niedrig. Sie lagen zu Beginn der Studie bei etwa 6,4% (46 mmol/mol), beim 6 Jahres-Follow-Up hatte weniger als die Hälfte der Teilnehmenden einen HbA1c-Wert von > 6,5% (mean HbA1c-Wert etwa 6,5% bzw. 48 mmol/mol). Gleichzeitig diskutieren die Studienautoren eine relativ niedrige Sensitivität des Fragebogens mit Unterschätzung der Inzidenz. Der Verlust von Studienteilnehmern kann darüber hinaus zu einem Attritionbias geführt haben. Die Bögen wurden zu den entsprechenden Zeitpunkten von 73%, 57% bzw. 38% der Teilnehmenden ausgefüllt.
Liegt bei der Eingangsuntersuchung keine diabetische sensomotorische Neuropathie vor und besteht nach individueller Risikoeinschätzung kein erhöhtes Risiko, ist aus Erfahrung der Leitliniengruppe insbesondere auf der hausärztlichen Versorgungsebene und nach Daten der eingebrachten Studie 31567 ein Screeningintervall von zwei Jahren vertretbar.
Die autonome Neuropathie kann verschiedene Organsysteme betreffen und zu vielfältigen Beschwerden führen, aber auch asymtomatisch verlaufen. Da die Symptome der autonomen Neuropathie aus klinischer Erfahrung der Leitliniengruppe häufig nicht aktiv angesprochen werden (z. B. Störungen der Sexualität, gastrointestinale Beschwerden, Funktionsstörungen des unteren Harntraktes, wie eine Drangsymptomatik, Harninkontinenz oder ein erschwertes Wasserlassen), empfiehlt sie ein regelmäßiges Screening gemäß der oben beschriebenen Risikobewertung. Einen Nutzen sieht sie in der Möglichkeit zur Einleitung der Therapie und adäquaten Risikoeinschätzung in Bezug auf weitere Erkrankungen (z. B. kardiovaskulär). Vorteilhaft für die Betroffenen kann auch sein, dass belastende Symptome der autonomen Neuropathie, die sie aus Schamgefühl nicht aktiv ansprechen, einer Behandlung zugeführt werden können. Potentielle Schäden sieht die Leitlinengruppe in einer möglichen Überdiagnostik mit sich anschließenden Folgeuntersuchungen und Therapien, die ggf. ohne Vorteil für die Betroffenen sind. Nach Schaden-Nutzenabwägung spricht sich die Leitliniengruppe für ein regelmäßiges pragmatisches Screening (siehe Kapitel 4.4.2 Screeninguntersuchungen) aus.
Weiterführende Informationen: Diabetische Neuropathie
Begriffserläuterung: Der Begriff der diabetischen Neuropathie umfasst heterogene Erkrankungen mit unterschiedlicher klinischer Manifestation, die verschiedene Regionen des peripheren und des autonomen Nervensystems betreffen können. Die diabetischen Neuropathien sind subklinische oder manifeste Erkrankungen, die infolge Diabetes mellitus ohne andere Ursachen auftreten. Sie lassen sich in sensomotorische (Synonym: somatische) diabetische Polyneuropathien und autonome diabetische Neuropathien einteilen. Mögliche Differentialdiagnosen sind Neuropathien anderer Genese, die zu ähnlichen Symptomen führen können.
Fußläsionen
Die angegebenen Screeningintervalle entsprechen der Empfehlung in der vorherigen NVL Therapie des Typ-2-Diabetes von 2014 23863. Vor dem Hintergrund der Überdiagnostik und Machbarkeit im Alltag beschränkt sich die Leitliniengruppe als Voraussetzung zur Wahl eines kürzeren Screeningintervalls auf eine klinisch relevante diabetische sensomotorische Polyneuropathie. Vorangiges Ziel ist das frühzeitige Erkennen von Fußläsionen bei Menschen mit Verlust der protektiven Schmerzwahrnehmung, da diese eine Verletzung häufig nicht bemerken.
Die periphere arterielle Verschlusskrankheit wurde auf Basis der Ergebnisse der strukturierten Recherche, pathophysiologischen Überlegungen und der klinischen Erfahrung der Leitliniengruppe als Risikofaktor zur Risikoabschätzung zusätzlich zur diabetischen sensomotorischen Neuropathie aufgenommen. Die diabetische sensomotorische Polyneuropathie und die arterielle Verschlusskrankheit sind bekannte Risikofaktoren für die Entwicklung von Fußläsionen und können die Prognose verschlechtern. Eine PAVK zur Risikostratifizierung und Wahl des Screeningsintervalls zu berücksichtigen, deckt sich zudem mit den Empfehlungen internationaler Leitlinien 32214, 32446, 32993, 30461 zur Behandlung von Menschen mit Diabetes. In einer über die strukturierte Recherche identifizierten Metaanalyse auf Basis von individuellen Patientendaten aus Kohortenstudien war das Fehlen mindestens eines Fußpulses mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten eines Fußulkus verbunden (methodische Qualität in Anlehnung an AMSTAR-2 moderat) 32486. In einem 2020 veröffentlichten HTA-Bericht der gleichen Arbeitsgruppe wurden die Daten der systematischen Übersichtsarbeit genutzt, um ein prognostisches Modell zum Risikoassessment zu entwickeln 32443. Der Bericht war über die strukturierte Recherche identifiziert worden. In dem Modell dienen der Pulsstatus, die Untersuchung mit dem 10g-Monofilament und die Anamnese bezüglich vorausgegangener Ulzerationen oder Amputationen der Risikoeinschätzung (Punkte 0–4). Die Autor*innen des HTA-Berichts untersuchten, bei wie vielen Menschen mit Typ-2-Diabetes sich die Risikoklassifizierung gemäß des neu entwickelten prognostischen Vorhersagemodells über einen Zeitraum von acht Jahren änderte. Versorgungsdaten von 26 154 Personen eines Schottischen Gesundheitsamtes wurden für die Analyse genutzt. Bei 1 397 Betroffenen (5%) änderte sich der Risikostatus über die Zeit der Beobachtung 32443. Limitierend ist unter anderem die hohe Rate fehlender Daten zu berücksichtigen. Wegen der Limitationen und dem geringen Schadenspotential der Untersuchung und den potentiell ernsthaften Folgen, sieht die Leitliniengruppe aktuell keine Veranlassung, von dem einjährigen Kontrollintervall abzuweichen.
Weiterführende Informationen: Risikoklassifizierung für das Auftreten von Fußläsionen
International liegen verschiedene Risikostratifizierungssysteme zur Einschätzung des Risikos für die Entwicklung diabetischer Fußläsionen vor. Diese beziehen unterschiedliche Risikofaktoren und deren Kombinationen zur Klassifizierung ein (z. B. diabetische Neuropathie, periphere Gefäßkrankheiten, Fußdeformitäten und vorangegangene Fußläsionen) 32446, 32993. Im Rahmen der Erstellung der NICE Guideline "Diabetic foot problems" wurden die Vorhersagekraft dieser Systeme untersucht. In 4 Kohortenstudien wurden insgesamt 5 verschiedene Systeme betrachtet. Laut Einschätzung der NICE-Autor*innen liegt eingeschränkte Evidenz aus Studien mit gemischter Qualität (2 niedrig, 1 moderat, 1 hoch) vor, die eine Vorhersage von Fußulzerationen, Amputationen der unteren Extremitäten oder Mortalität anhand der Risikostratifizierungssysteme (Scottish Intercollegiate Guidelines (SIGN), Seattle risk score, University of Texas (UT), American Diabetes Association (ADA) und International Working Group on Diabetic Foot (IWGDF)) zeigen. Die Vorhersagekraft wurde für die unterschiedlichen Systeme ähnlich eingeschätzt 32446, 32993. Grund für die Herabstufung waren das retrospektive Studiendesign in zwei Studien, das Setting in der tertiären Versorgungsebene und der unklare Verlust von Studienteilnehmer*innen (Attrition bias).
In der vorherigen NVL zu Präventions- und Behandlungsstrategien für Fußkomplikationen war eine Zuordnung der Patient*innen gemäß dem Risikoklassifizierungssystem der Internationalen Arbeitsgruppe um den diabetischen Fuß (International Working Group on the Diabetic Foot, IWGDF) empfohlen worden. Im Rahmen der aktuellen Überarbeitung wurde das Risikoklassifizierungssystem aus der evidenzbasierten IWGDF-Leitlinie 2019 entsprechend der oben genannten Überlegungen modifiziert. Ziel war es, den Anwendenden eine übersichtliche, pragmatische Darstellung als Orientierung bereitzustellen.
Tabelle 19: Risikoklassifizierungssystem für das Auftreten von Fußläsionen modifiziert nach International Working Group on the Diabetic Foot (IWGDF) 32214
Kategorie |
Befunde |
Untersuchungen |
Risikoeinstufung |
---|---|---|---|
0 |
Kein Verlust der protektiven Schmerzwahrnehmung (LOPS) und keine PAVK |
einmal jährlich |
Niedriges Risiko |
1 |
Verlust der protektiven Schmerzwahrnehmung (LOPS) oder PAVK |
alle sechs Monate |
Erhöhtes Risiko |
2 |
Verlust der protektiven Schmerzwahrnehmung (LOPS) + PAVK, Verlust der protektiven Schmerzwahrnehmung (LOPS) + Fußdeformität, oder PAVK + Fußdeformität |
alle drei Monate |
|
3 |
Verlust der protektiven Schmerzwahrnehmung (LOPS) und/oder PAVK, und ein oder mehrere der folgenden Faktoren:
|
Mindestens alle drei Monate |
Hohes Risiko |
Abkürzungen: LOPS: Loss of protective sensation, PAVK: periphere arterielle Verschlusskrankheit |
Nephropathie bei Diabetes
Die Wahl des Screeningintervalls beruht auf epidemiologischen Daten zur Prävalenz, indirekter Evidenz zum Nutzen der nicht-medikamentösen und medikamentösen Therapie, der klinischen Erfahrung der Leitliniengruppe und pragmatischen Überlegungen zur Therapieplanung (siehe Kapitel 5 Medikamentöse Therapie des Glukosestoffwechsels). Die Intervalle entsprechen den Empfehlungen aus der vorherigen Auflage der NVL 23863, 24738. In der themenübergreifenden strukturierten Recherche wurde keine Evidenz identifiziert, die ein Abweichen hiervon begründet.
Retinopathie bei Diabetes
Die Empfehlung zu den risikoadaptierten Screeningintervallen basiert auf der für die vorherige Auflage systematisch recherchierten Evidenz zu Screeningintervallen 26174, auf epidemiologischen Daten und bekannten Risikofaktoren für die Entwicklung einer Retinopathie sowie der klinischen Erfahrung der Leitliniengruppe. In der themenübergreifenden Recherche wurde keine neue Evidenz identifiziert, welche die Gruppe veranlasste, von dieser Empfehlung abzuweichen.
Klinische Zeichen werden von den Betroffenen mit diabetischer Retinopathie häufig erst im fortgeschrittenen Stadium wahrgenommen. Frühe Stadien laufen dagegen meist symptomlos 32435.
Tabelle 20: Allgemeine Risikofaktoren für Retinopathie und/oder Makulopathie
Wesentliche allgemeine Risikofaktoren für die Entstehung bzw. Progression einer diabetischen Retinopathie und/oder Makulopathie sind: |
---|
|
Weitere Risikofaktoren sind: |
|
Die Tabelle 20 wurde aus der vorherigen NVL zur Prävention und Therapie von Netzhautkomplikationen bei Diabetes (2015) weitestgehend übernommen 26174. Als einen zusätzlichen Faktor für die Entstehung und Progression einer diabetischen Retinopathie nennt die Leitliniengruppe Situationen mit stark schwankenden Glukosespiegeln, z. B. auch in der Frühphase nach bariatrischer Operation (32428, 32429, selektiv eingebrachte Literatur). In der SUSTAIN-6-Studie (Semaglutid s.c.) war eine zu schnelle Blutzuckersenkung als mögliche Ursache für das vermehrte Auftreten von retinalen Komplikationen diskutiert worden (siehe auch Kapitel 5.5.3.2 Sicherheitsaspekte der SGLT2-Inhibitoren).
Depressive Störungen und andere psychische Komorbiditäten
Depressive Störungen und einige andere psychische Komorbiditäten (z. B. Ess- oder Angststörungen, kognitive Einschränkungen) treten bei Menschen mit Typ-2-Diabetes häufiger auf als bei Menschen ohne Diabetes (siehe Kapitel 1 Epidemiologie) und können neben den Auswirkungen der Störungen als solche aus klinischer Erfahrung der Leitliniengruppe negativen Einfluss auf die Diabetestherapie und das Selbstbehandlungsverhalten haben.
Der Vorteil eines Screenings ergibt sich indirekt aus der Wirksamkeit der für die jeweiligen Komorbiditäten zur Verfügung stehenden Therapien 32922, 31574, 30855. Da Symptome psychischer Erkrankungen aus der klinischen Erfahrung der Leitliniengruppe nicht immer aktiv vorgetragen werden, empfiehlt sie ein regelmäßiges Erfragen von Verdachtsmomenten. Sie sieht einen potentiellen Nutzen in der Diagnostik und Einleitung der Therapie und keinen Hinweis auf Schaden.
Depressive Störungen: Nach dem bundesweiten RKI-Befragungssurvey (GEDA 2014/2015-EHIS) liegt eine depressive Symptomatik bei Menschen mit Typ-2-Diabetes mehr als doppelt so häufig vor wie bei Menschen ohne Diabetes (OR gesamt 2,20; Frauen 2,47; Männer 2,06) 30139 (siehe auch Kapitel 1.6.5 Depressive Störungen in Kapitel 1 Epidemiologie). Bezüglich des Screenings auf eine depressive Störung und der umfassenden Abklärung bei positivem Screeningergebnis verweist die Leitliniengruppe auf die aktuelle NVL Unipolare Depression (siehe NVL Unipolare Depression: Kapitel Diagnostik und Monitoring 32922).
Angststörungen: Kontrollierte Studien weisen nach der S2-Leitlinie Psychosoziales und Diabetes 32139, 32216 auf eine etwa 20% Risikoerhöhung der Lebenszeitprävalenz für Angststörungen bei Menschen mit Diabetes hin. Die Angst vor diabetesbezogenen Komplikationen und Hypoglykämien kann aus der klinischen Erfahrung der Leitliniengruppe zu emotionaler Belastung führen.
Essstörungen: Die ca. 3,8-fach höhere Prävalenz der Adipositas bei Menschen mit Typ-2-Diabetes im Vergleich zu Menschen ohne Diabetes rechtfertigt aus Sicht der Leitliniengruppe darüber hinaus ein Screening nach Verdachtsmomenten für Essstörungen in dieser Patientengruppe (32437, siehe Kapitel 1 Epidemiologie).
Kognitive Einschränkungen: Da die Diabetesprävalenz mit dem Alter zunimmt (siehe Kapitel 1 Epidemiologie) können auch altersabhängige kognitive Einschränkungen in dieser Personengruppe vermehrt auftreten. Eine Berücksichtigung ist aus Sicht der Leitliniengruppe insbesondere für die Anamneseerhebung und in der Therapieplanung von Bedeutung (siehe auch Weiterführende Informationen: Geriatrische Syndrome und geriatrisches Assessment).
Abschätzung des kardiovaskulären Risikos
Menschen mit Diabetes sind häufiger von kardiovaskulären Erkrankungen betroffen, als Menschen ohne Diabetes (siehe Kapitel 1 Epidemiologie). Das Ziel der Therapie des Glukosestoffwechsels ist unter anderem die Verbesserung prognostisch relevanter Outcomes wie die Verhinderung von kardiovaskulären und renalen Ereignissen. Der Therapie-Algorithmus (Abbildung 7: Algorithmus Medikamentöse Therapie des Typ-2-Diabetes) sieht dabei vor, dass die medikamentöse Therapie gemäß des Risikoprofils gewählt wird. Die Notwendigkeit einer regelmäßigen Einschätzung ergibt sich daher bereits aus pragmatischen Gründen zur Therapieplanung und zum Therapiemonitoring. Indirekte Evidenz zum Nutzen der Therapie bei vorliegender Erkrankung aus der NVL Chronische KHK und der NVL Chronische Herzinsuffizienz stützt darüber hinaus die Empfehlung einer regelmäßigen Abschätzung 32809, 31656.
4.4.2 Screeninguntersuchungen
Tabelle 21: Screeninguntersuchungen auf Folge- und Begleiterkrankungen bei Menschen mit Typ-2-Diabetes
Screening auf eine diabetische sensomotorische Polyneuropathie und Fußläsionen |
|
---|---|
|
|
1. |
oder
|
und |
|
2. |
oder
|
Ggf. zusätzlich Achillessehnenreflexe |
|
Screening auf eine autonome diabetische Neuropathie |
|
|
|
Screening auf Nephropathie bei Diabetes |
|
|
|
Screening auf Retinopathie bei Diabetes |
|
|
|
Screening auf depressive Störungen und andere psychische Komorbiditäten |
|
|
|
Abschätzung des kardiovaskulären Risikos |
|
|
|
* Position DEGAM und AkdÄ: Individuell zu prüfende Bestimmung auf UACR für bestimmte Risikogruppen, (siehe Abweichende Einschätzungen der Fachgesellschaften in Kapitel 4.1.1 Anamnese und körperliche Untersuchungen und im Anhang 9) |
Die in Tabelle 21 dargestellten Untersuchungen sind nach Einschätzung der Leitliniengruppe unter Berücksichtigung der zugrundeliegenden Evidenz dafür geeignet, Menschen mit Diabetes zu erkennen, bei denen eine weiterführende Diagnostik sinnvoll ist, um die Schwere einer Folgeerkrankung durch Behandlung zu verringen und Spätkomplikationen wie Amputationen, terminale Nierenerkrankung, Erblindung oder kardiovaskuläre Mortalität zu verhindern (zur Aussagesicherheit der Evidenz siehe Evidenzbeschreibung). Kritische Überlegungen zu Krankheitsdefinitionen, Risikofaktoren für die Entwicklung und epidemiologische Daten zur Häufigkeit von Symptomen/Komorbiditäten wurden in die Erwägungen mit einbezogen, ebenso Überlegungen zu Ressourcennutzung, Verfügbarkeit und potentielle Belastungen durch die einzelnen Interventionen.
Evidenzbasis und Versorgungsproblem
Tabelle 21 beruht auf der direkten und indirekten Evidenz aus den vorherigen NVL zum Themenbereich Diabetes 30867, 23863, 24738, 26174, 25602, 24679, der NVL Chronische KHK 32809, der NVL Chronische Herzinsuffizienz 31656, der NVL Unipolare Depression 32922 und Evidenz aus der themenübergreifenden strukturierten Recherche. Die klinische Erfahrung der Leitliniengruppe und kritische Überlegungen zu Krankheitsdefinitionen, Risikofaktoren für die Entwicklung und epidemiologische Daten zur Häufigkeit von Symptomen/Komorbiditäten wurden ebenfalls in die Überlegungen mit einbezogen.
Die Gruppe nimmt aus ihrer klinischen Erfahrung als Versorgungsproblem wahr, dass Untersuchungen zum Screening auf Folge- und Begleiterkrankungen nicht immer strukturiert erfolgen.
Anamneseerhebung: Die risikofaktoren- und symptomorientierte Anamneseerhebung beschreibt gute klinische Praxis. Sie wird in Tabelle 21 aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit nur bei dem Screening auf die DSPN und Fußläsionen genannt, ist aber auch Bestandteil der Untersuchungen auf die anderen Folge- und Begleiterkrankungen.
4.4.2.1 Evidenzbeschreibung und Erwägungen, die die Wahl der Screeninguntersuchungen begründen
Diabetische sensomotorische Polyneuropathie und Fußläsionen
Grundlage für die Diskussion in der Leitliniengruppe bildeten die vorherigen Auflagen der NVL Neuropathie bei Diabetes und NVL Prävention- und Behandlungsstrategien für Fußkomplikationen 25602, 24679, sowie die in der strukturierten Recherche identifizierte Evidenz.
Die risikofaktoren- und symptomorientierte Anamneseerhebung beschreibt gute klinische Praxis. Sie basiert auf pathophysiologischen Überlegungen, epidemiologischen Daten und Evidenz zu Risikofaktoren und Komorbiditäten (wie z. B. Urämie, Alkoholkrankheit). Die Erhebung von Symptomen dient darüber hinaus der Therapieplanung und -Steuerung. Validierte Fragebögen wie der Neuropathie Symptom Score (NSS) und der Neuropathie Defizit Score (NDS) erlauben eine strukturierte Erfassung und vergleichende Beurteilung im zeitlichen Verlauf. Gemäß der Erfahrung der Leitliniengruppe ist die Verwendung von Fragebögen insbesondere auf Ebene der Primärversorgung mit einer Hürde verbunden. Ausreichend geschulten Personen ist eine Erfassung der wichtigen Kriterien auch ohne einen festgelegten Fragebogen möglich, wichtig ist aus Sicht der Gruppe aber, dass die Erfassung strukturiert erfolgt.
Neben Plussymptomen, wie zum Beispiel Schmerzen, auch die Minussymptome zu erfragen, ist zur Risikoabschätzung schmerzloser Fußläsionen aus Sicht der Leitliniengruppe besonders wichtig. Anders als die Plussymptome seien letztere aus ihrer klinischen Erfahrung seltener ein Vorstellungsgrund in der ärztlichen Praxis.
Die Inspektion und klinische Untersuchung der Beine und Füße (unter Einbeziehung der Schuhe und Strümpfe) entspricht guter klinischer Praxis und erlaubt die umfassende Beurteilung. Eine beidseitige und seitenvergleichende Untersuchung ist hierbei wichtig, da Läsionen einseitig auftreten können.
Untersuchung auf eine PAVK und neurologische Untersuchungen: Die diabetische sensomotorische Polyneuropathie (DSPN) und periphere arterielle Verschlusskrankheit (PAVK) sind Hauptrisikofaktoren für die Entstehung von Fußläsionen und ihre Prognoseverschlechterung. In einem über die systematische Recherche identifizierten HTA-Bericht wurde der prädiktive Werte einzelner Faktoren für die Entwicklung von Fußläsionen untersucht 32486. Hierzu erfolgte ein systematischer Review und eine Metaanalyse individueller Patientendaten aus Kohortenstudien (methodische Qualität in Anlehnung an AMSTAR-2 moderat). Bei Menschen ohne vorheriges Ulkus und ohne vorherige Amputation der unteren Extremität waren in der Analyse eine auffällige Untersuchung mit dem 10 g-Monofilament und mindestens ein fehlender Fußpuls prädiktiv für die Entstehung eines Ulkus (10 g-Monofilament: OR 3,438 (95% KI 2,772; 4,264), I2: 0%, 5 Studien, n = 10 663; fehlender Fußpuls: OR 2,605 (95% KI 1,808; 3,754), I2: 42,7%, 4 Studien, n = 10 595), Aussagesicherheit der Evidenz sehr niedrig). Limitierend ist die Heterogenität der Studien unter anderem mit unterschiedlichen Follow-Ups und Settings zu berücksichtigen und die fehlende Verblindung bei der Endpunkterhebung bei einem Teil der Studien. Die Analysen waren jeweils für Geschlecht, Alter, Diabetesdauer, Vorhandensein der pedalen Pulse bzw. die Monofilament-Testung adjustiert. In einer sekundären Analyse wurde auch der prädiktive Wert der Vibrationswahrnehmungsschwelle berechnet. Für Menschen ohne vorangegangenes Ulkus und ohne Amputation in der Vorgeschichte lag die OR bei 2,294 (95% KI 1,189; 4,426), I2: 24,9%, 4 Studien. Eine Adjustierung fand für das Alter, Geschlecht, Diabetesdauer, das Ergebnis der Monofilament-Testung und Vorhandensein der Fußpulse statt. Ein spezifischer Test war nicht festgelegt worden (Biothesiometer, Neurothesiometer, oder Stimmgabel) 32486.
Eine Review-Frage in der NICE-Guideline (NG19) beschäftigte sich mit der Evaluation von klinischen Tests zur Untersuchung der Füße und Vorhersage von Fußulzerationen. Eingeschränkte Evidenz aus 13 Kohortenstudien mit niedrieger und sehr niedriger methodischer Qualität zeigt, dass Tests auf einen Verlust des Berührungsempfindens in den Füßen bei Menschen mit Diabetes die Ulkusentstehung, Amputationen im Bereich der unteren Extremitäten und Mortalität vorhersagen können. Die meiste Evidenz liegt zum 10 g-Monofilament vor 32446, 32993.
Unter Berücksichtigung der vorliegenden Evidenz und pathophysiologischen Überlegungen spricht sich die Leitliniengruppe dafür aus, zum Screening auf diabetische sensomotorische Polyneuropathie zwei neurologische Tests durchzuführen. Ein einzelner Test ist aus Sicht der Leitliniengruppe nicht ausreichend. Bei der Wahl scheint es aus pathophysiologischen Überlegungen günstig, einen Großfasertest (Testung der Vibrationsempfindung, oder der Druck- bzw. Berührungsempfindung) und einen Kleinfasertest (Testung der Schmerzempfindung, oder Temperaturemfindung) zu kombinieren. Welche Tests durchgeführt werden, entscheidet die untersuchende Person nach ihrer Erfahrung und den vorhandenen Untersuchungsinstrumenten. Aus ihrer klinischen Erfahrung sieht die Leitliniengruppe für die Prüfung des Achillessehnenreflexes wegen der hohen Variabilität bzw. geringen Zuverlässigkeit keinen Stellenwert in diesem geforderten "Minimalprogramm", diese Untersuchung kann ggf. zusätzlich infrage kommen, aber keine der empfohlenen Untersuchungen ersetzen. Die Leitliniengruppe nimmt aus ihrer klinischen Erfahrung wahr, dass ältere Menschen gelegentlich Druck schlecht von Vibration unterscheiden können.
Die korrekte Durchführung und Auswertung der neurologischen Tests und Interpretation der Ergebnisse werden im Anhang 3 dargestellt.
Autonome diabetische Neuropathie
Grundlage der Diskussion waren die vorherigen Auflagen der NVL Therapie des Typ-2-Diabetes und Neuropathie bei Diabetes 23863, 25602. In der themenübergreifenden strukturierten Recherche wurde keine neue relevante Evidenz identifiziert. Nach klinischer Einschätzung der Leitliniengruppe werden Symptome der autonomen Neuropathie selten aktiv von den Betroffenen berichtet. Mögliche Gründe sind die unspezifischen Symptome aber auch Störungen, die aus Scham nicht aktiv angesprochen werden (Verdauungsprobleme, Sexualstörungen, Störungen des unteren Harntraktes wie Drangsymptomatik, Inkontinenz oder Blasenentleerungsstörungen). Die Gruppe hält es daher für wichtig, Betroffene in regelmäßigen Abständen gezielt nach Beschwerden zu fragen. Die durch autonome diabetische Neuropathie hervorgerufenen Beschwerden sind vielfältig und können verschiedene Organsysteme betreffen. Durch wenige einfache Fragen lassen sich Hinweise auf Störungen der einzelnen Organsysteme erhalten. Als Orientierung dient Tabelle 22, in der einige betroffene Organsysteme und die auftretenden Symptome dargestellt sind.
Tabelle 22 ist modifiziert nach der bisherigen NVL 25602 und der DDG-Praxisempfehlung "Diabetische Neuropathie" 32107. Zu weiteren möglichen Organmanifestationen zählen auch Störungen der Pupillomotorik mit Hell-Dunkel-Adaptationsschwäche und Problemen bei Nacht- und Tunnelfahrten.
In der Leitliniengruppe wurde ein strukturiertes Assessment zum Screening auf eine autonome Neuropathie mithilfe validierter Fragebögen diskutiert (z. B. Survey of autonomic symptoms 32107, 31597). Dieses ist aus Sicht der Leitliniengruppe in der hausärztlichen Praxis nicht regelhaft praktikabel. Anwendende, die eine Erfassung mittels Fragebogen als hilfreich erachten, finden ein Beispiel für einen solchen in der aktuellen Praxisempfehlung der DDG (Survey of Autonomic Symptoms, 32107).
Tabelle 22: Mögliche Symptome als Hinweise auf eine autonome diabetische Neuropathie
Organ-/Funktionssystem |
Symptome |
|
---|---|---|
Kardiovaskuläres System |
|
|
Gastrointestinaltrakt |
|
|
Urogenitaltrakt |
|
|
Schlafbezogene Atmungsstörungen |
|
Nephropathie bei Diabetes
Auf Grundlage der vorangegangenen NVL 24738 empfiehlt die Leitliniengruppe die Nierenfunktion mittels eGFR zu bestimmen. In der strukturierten Recherche wurde keine Evidenz identifiziert, die ein abweichendes Vorgehen nahelegt. Liegen die erhobenen Werte im Grenzbereich oder im pathologischen Bereich, ist eine zeitnahe Kontrolle sinnvoll.
Zur Bestimmung der Urin-Albumin-Kreatinin-Ratio (UACR) liegen – wie bei der Entwicklung der vorangegangenen NVL – unterschiedliche Einschätzungen innerhalb der Leitliniengruppe vor (siehe auch 24738). Zu den abweichenden Einschätzungen der Fachgesellschaften zur Durchführung eines U-Status und Bestimmung der UACR siehe Abweichende Einschätzungen der Fachgesellschaften in Kapitel 4.1.1 Anamnese und körperliche Untersuchungen und im Anhang 9.
Retinopathie bei Diabetes
Die augenärztlichen Screeninguntersuchungen wurden aus der vorherigen NVL übernommen 26174. In der strukturierten themenübergreifenden Recherche wurde keine neue Evidenz identifiziert, die ein abweichendes Vorgehen rechtfertigt. Die Leitliniengruppe nimmt als Versorgungsproblem wahr, dass die empfohlenen Screeningintervalle bei einem Teil der Menschen mit Typ-2-Diabetes nicht eingehalten werden. Nach Daten des DMP Nordrhein-Westfalen wurde das Qualitätsziel, die Netzhaut regelmäßig untersuchen zu lassen (zweijährlich), im Jahr 2020 nach Kenntnis der im DMP dokumentierenden Ärzt*innen nur von 66,7% (558 092/837 153) der eingeschriebenen Personen erreicht 32438.
Zudem nimmt die Leitliniengruppe aus ihrer klinischen Erfahrung wahr, dass die Dokumentationsbögen "Hausärztliche/diabetologische Mitteilung an den Augenarzt/die Augenärztin" und "Augenfachärztliche Mitteilung" im Anhang 4 zu selten eingesetzt werden und spricht sich dafür aus, diese stärker zu nutzen, um den interdisziplinären Austausch zu verbessern. Gleichzeitig erhofft sich die Leitliniengruppe eine Verbesserung der Datenbasis zu augenärztlichen Screeninguntersuchungen bei Menschen mit Typ-2-Diabetes.
Weiterführende Informationen: KI-basierte Verfahren zur Auswertung von Fundusfotografien
In den vergangenen Jahren wurden verschiedene neue künstliche Intelligenz (KI) basierte Verfahren zur Auswertung von Fundusfotografien entwickelt. Zur Beurteilung des Stellenwertes dieser Systeme für den Ausschluss oder die frühe Erfassung von klinisch relevanten Netzhautveränderungen im klinischen Setting erfolgte eine systematische Recherche bei PubMed, Cochrane und Epistemonikos nach prospektiven Studien, die den Einsatz KI-basierter Verfahren zur Befundung von Fundusfotografien im klinischen Setting untersuchen. Als Referenzuntersuchung war die augenärztliche Funduskopie festgelegt worden, da dies dem aktuell empfohlenen Vorgehen in der NVL entspricht. Retrospektive Analysen bereits vorhandener Fundusfotografien mithilfe von KI-basierten Verfahren und die Befundung von Fundusfotografien durch medizinisches Fachpersonal als Referenzuntersuchung wurden ausgeschlossen. Die Recherche erfolgt zweistufig. Zunächst wurde nach aggregierter Evidenz mit relevanter Fragestellung gesucht. Im Anschluss erfolgte eine Recherche nach Einzelstudien für den Zeitraum, der nicht durch die Suchzeiträume der systematischen Übersichtsarbeiten abgedeckt war.
Evidenzbeschreibung
In der systematischen Recherche wurden nur wenige Treffer identifiziert. In einer Studie aus dem deutschen Versorgungskontext wurde das Idx-DR-System in einer diabetologischen Schwerpunktklinik zum Screening auf eine diabetische Retinopathie eingesetzt 32153. Bei Ausschluss aller nicht verwertbaren Aufnahmen (ca. 40%) lag die Sensitivität für das Erkennen einer schweren, behandlungsbedürftigen Retinopathie bei 95,7%, die Spezifität bei 89,1%. Wurden alle Fälle betrachtet, lagen Sensitivität und Spezifität bei 65,2% und 66,7%. Insgesamt war bei ca. 60% der Teilnehmenden eine Fundusfotografie mit ausreichender Bildqualität in Miosis möglich. Bei der Einschätzung des Schweregrades zeigte sich in der Gruppe der Betroffenen mit auswertbaren Befunden eine Übereinstimmung zwischen Funduskopie und Idx-DR-Analyse in ca. 55% der Fälle, in ca. 40% der Fälle wurde der Schweregrad durch das Idx-DR-System überschätzt, in ca. 4% unterschätzt 32153. Bei einem Teil der Betroffenen (abhängig vom Kamerasystem) war keine qualitativ ausreichende Fundusfotografie ohne Pupillenerweiterung möglich (engere Pupillen und Trübungen der optischen Medien beim älteren Menschen, siehe hierzu auch 33005), bei jungen Menschen war die Bildqualität durch vermehrte Fundusreflexe herabgesetzt.
Einschränkend ist zu berücksichtigen, dass in der betrachteten Studie die Altersverteilung und Krankheitsprävalenz nicht der Versorgungsrealität im DMP-Programm entspricht. Die untersuchten Personen waren jünger und die Studie fand in einem spezialisierten Zentrum (diabetologische Schwerpunktklinik) statt (QUADAS2: insgesamt niedriges Verzerrungsrisiko).
Zusammenfassende Beurteilung der Evidenz und perspektivischer Ausblick: In den wenigen Studien, die zur Anwendung KI-basierter Verfahren im Vergleich zur augenärztlichen Untersuchung im klinischen Setting vorliegen, scheint die KI-unterstützte Analyse von Fundusfotografien zum Screening auf diabetische Retinopathie zukünftig grundsätzlich geeignet.
Folgende aktuelle Limitationen/Erwägungen wurden in der Gruppe diskutiert:
Grundlage für den Einsatz KI-basierter Verfahren ist eine Fundusfotografie. Fundusfotografien werden aktuell nicht von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet und entsprechen einer IGeL-Leistung. Unter Berücksichtigung der aktuell vorliegenden Evidenz sieht die Leitliniengruppe es als nicht gerechtfertigt an, eine Empfehlung für eine IGeL-Leistung auszusprechen, wenn es eine mindestens gleichwertige Methode gibt, die von der GKV abgedeckt wird.
Sollte die Fundusfotografie zukünftig in die Regelversorgung übergehen, sieht die Gruppe ein mögliches Potential der KI-basierten Befundung darin, als vorgeschaltete Untersuchung die Barrieren im Retinopathie-Screening (Auslastung und Verfügbarkeit von Augenärzt*innen, Weitstellung der Pupillen) zu reduzieren. Aus klinischer Erfahrung der Ophthalmolog*innen bestehen bei einem großen Teil der Menschen mit Typ-2-Diabetes weitere Augenerkrankungen, die eine augenärztliche Betreuung notwendig machen. Die Möglichkeit einer zeitsparenden Untersuchung ohne Weitstellung der Pupille würde nach Einschätzung der Gruppe die Bereitschaft zum Retinopathie-Screening sowohl im augenärztlichen als auch haus- und fachärztlichen Bereich erhöhen. Dabei ist wichtig, zu berücksichtigen, welchen Teil der Netzhaut das verwendete System bei der Fotografie in Miosis abdeckt und dass periphere Fundusveränderungen möglicherweise nicht, oder nicht in ausreichender Qualität erfasst werden. Bei einem Teil der Menschen, die in den betrachteten Studien untersucht wurden, konnte zudem in Miosis kein auswertbares Fundusfoto angefertigt werden 32153. Durch die Untersuchung könnte aus Sicht der Gruppe perspektivisch eine Dringlichkeitseinstufung im Hinblick auf eine augenärztliche Untersuchung (inklusive Funduskopie in Mydriasis, siehe Tabelle 21) ermöglicht werden, wenn ein auffälliger Befund vorliegt oder wenn eine Fundusfotografie nicht möglich oder von nicht verwertbarer Qualität ist.
Neben dem potentiellen Einsatz im Rahmen des Screenings auf eine diabetische Retinopathie diskutierte die Leitliniengruppe einen Nutzen der Fundusfotografie in der Dokumentation der Befunde, zur besseren Vergleichbarkeit im zeitlichen Verlauf und anschaulichen Darstellung gegenüber den Betroffenen. Aus ihrer klinischen Erfahrung beschreiben die Vertreter*innen der Ophthalmologie eine Erleichterung der Arbeit und eine Zeitersparnis für den Augenarzt/die Augenärztin zu Lasten des fotografierenden Personals.
Bezogen auf die Fundusfotografie mit KI-basierter Befundung geben die Vertreter*innen der Ophthalmologie zu bedenken, dass neben den Anschaffungskosten für ein qualitativ hochwertiges Kamerasystem und die entsprechende, zugelassene KI-Auswertungssoftware zur Durchführung der Fundusfotografie entsprechende Räumlichkeiten und qualifiziertes Personal benötigt werden. Beim Screening-Einsatz einer Funduskamera mit KI-gestützter Auswertungs-Software sollte aus Sicht der augenärztlichen Fachgesellschaft sowohl die Produktqualität des Kamerasystems und der Software (einschließlich ihrer Updates) ebenso wie die Konnektivität beider Systemkomponenten durch Zertifizierung gewährleistet sein.
Die Vertreter*innen der Ophthalmologie machen deutlich, dass aus ihrer Sicht ein perspektivischer Einsatz der KI-basierten Verfahren zur Befundung von Fundusfotografien nur unter ärztlicher Indikationsstellung und in zusätzlicher augenärztlicher Betreuung sinnvoll erscheint. Eine Durchführung zum Beispiel beim Optiker ohne ärztliche Überprüfung, Einschätzung und Erläuterung der Befunde wird kritisch gesehen.
Depressive Störungen und andere psychische Komorbiditäten
Die Leitliniengruppe empfiehlt einmal jährlich oder anlassbezogen (z. B. in kritischen Krankheitsphasen wie Diagnose, Entwicklung von Folgeerkrankungen, problematisches Krankheitsverhalten, deutlich eingeschränkte Lebensqualität) Verdachtsmomente für eine depressive Störung oder andere psychische Komorbiditäten (z. B. Ess- oder Angststörungen, kognitive Einschränkungen) zu erfragen. Ob dies in die allgemeine Anamnese einfließt oder mittels spezifischer Testverfahren wie z. B. dem Zwei-Fragen-Test, WHO-5-Fragebogen (siehe auch Kapitel Diagnostik und Monitoring der NVL Unipolare Depression 32922 und Anhang 7) erfolgt, entscheidet die behandelnde Ärztin/der behandelnde Arzt. Bei positivem Screeningergebnis soll eine umfassende Abklärung erfolgen. Für die Diagnostik und Behandlung von Depressionen, Angststörungen und Essstörungen wird auf hochwertige Leitlinien aus dem deutschen Versorgungskontext verwiesen 32922, 31574, 30855
Zur Erfassung kognitiver Einschränkungen bei älteren Menschen mit Typ-2-Diabetes verweist die Leitliniengruppe auf die S2k-Leitlinie 30469 und die dort aufgeführten Instrumente (siehe auch Weiterführende Informationen: Geriatrische Syndrome und geriatrisches Assessment und Anhang 6 Beispiele für Testverfahren des geriatrischen Assessments).
Kardiovaskuläres Risiko
Zur Abschätzung des kardiovaskulären Risikos hat die Leitliniengruppe Risikofaktoren in der Tabelle 23 auf Basis eines Expertenkonsenses zusammengetragen. Darüber hinaus stehen für den hausärztlichen Versorgunsbereich verschiedene Risikoscores zur Abschätzung zur Verfügung (z. B. ARRIBA, Framingham-Score, PROCAM-Score, SCORE-Score). Diese unterscheiden sich unter anderem in den berücksichtigten Risikofaktoren, den Risiken, die abgeschätzt werden sollen, und der Population, in der der jeweilige Score entwickelt wurde. In mehreren Instrumenten zur Risikoeinschätzung führt ein vorliegender Diabetes zu einer hohen Risikoeinschätzung. Nach Kenntnis der Leitliniengruppe ist keiner der Scores für Menschen mit Typ-2-Diabetes ausreichend validiert. Die Leitliniengruppe sieht hier Forschungsbedarf (32764, selektiv eingebrachte Literatur).
Eine koronare Herzkrankheit und Herzinsuffizienz treten bei Menschen mit Diabetes häufiger auf als bei Menschen ohne Diabetes (siehe Kapitel 1 Epidemiologie). Um eine Erkrankung frühzeitig zu diagnostizieren und eine entsprechende Therapie einleiten zu können, empfiehlt die Leitliniengruppe, klassische Symptome der koronaren Herzerkrankung (siehe Kapitel Diagnostik bei (Verdacht auf) KHK der NVL Chronische KHK, 32809) und der Herzinsuffizienz (siehe Tabelle "Symptome der chronischen Herzinsuffizienz" der NVL Chronische Herzinsuffizienz, 31656) zu erfragen.
Zum opportunistischen Screening auf Vorhofflimmern spricht sich die Leitliniengruppe aus pragmatischen Überlegungen für ein Tasten des Pulses für mindestens 15 Sekunden aus.
-
Flyer: Was ist wichtig? Was ist neu?
Wichtige Aussagen der NVL für Ärztinnen und Ärzte zusammengefasst.
-
Foliensatz
Für Präsentationen zu den NVL bei Kongressen.
-
Patient*innen
Weitere Materialien für Patient*innen auf unserer Seite Patienten-Information.de.
-
Dokumentationsbögen
Dokumentationsbögen zur Prävention und Therapie von Netzhautkomplikationen bei Diabetes.
-
Typ-2-Diabetes – Welche Medikamente gibt es?
Sie werden weitergeleitet auf unsere Seite Patienten-Information.de
-
Typ-2-Diabetes – Medikamente: Wann helfen Gliflozine oder Glutide?
Sie werden weitergeleitet auf unsere Seite Patienten-Information.de
-
Typ-2-Diabetes – Wie soll der Blutzucker eingestellt sein?
Sie werden weitergeleitet auf unsere Seite Patienten-Information.de
Bitte beachten Sie, dass nur die unter www.leitlinien.de enthaltenen Dokumente des Programms für Nationale VersorgungsLeitlinien durch die Träger des NVL-Programms autorisiert und damit gültig sind. Bei NVL-Dokumenten, die Sie von anderen Webseiten beziehen, übernehmen wir keine Verantwortung für deren Gültigkeit.
-
Langfassung
PDF zum Download
-
Kurzfassung
Schneller Überblick über Empfehlungen und Algorithmen.
Die jeweiligen Archive der verschiedenen Nationalen VersorgungsLeitlinien zum Thema Diabetes:
-
Archiv: NVL Typ-2-Diabetes
Das Archiv enthält abgelaufene, zurückgezogene Dokumente zur Nationalen Versorgungsleitlinie Typ-2-Diabetes.
-
Archiv: NVL Prävention und Therapie von Netzhautkomplikationen bei Diabetes
Das Archiv enthält abgelaufene, zurückgezogene Dokumente zur Nationalen Versorgungsleitlinie Prävention und Therapie von Netzhautkomplikationen bei Diabetes.
-
Archiv: NVL Neuropathie bei Diabetes im Erwachsenenalter
Das Archiv enthält abgelaufene, zurückgezogene Dokumente zur Nationalen Versorgungsleitlinie Neuropathie bei Diabetes im Erwachsenenalter.
-
Archiv: NVL Typ-2-Diabetes Präventions- und Behandlungsstrategien für Fußkomplikationen
Das Archiv enthält abgelaufene, zurückgezogene Dokumente zur Nationalen Versorgungsleitlinie Typ-2-Diabetes Präventions- und Behandlungsstrategien für Fußkomplikationen.
-
Archiv: NVL Diabetes Strukturierte Schulungsprogramme
Das Archiv enthält abgelaufene, zurückgezogene Dokumente zur Nationalen Versorgungsleitlinie Diabetes Strukturierte Schulungsprogramme.
-
Archiv: NVL Nierenerkrankungen bei Diabetes im Erwachsenenalter
Das Archiv enthält abgelaufene, zurückgezogene Dokumente zur Nationalen Versorgungsleitlinie Nierenerkrankungen bei Diabetes im Erwachsenenalter.
-
Archiv: NVL Therapie des Typ-2-Diabetes
Das Archiv enthält abgelaufene, zurückgezogene Dokumente zur Nationalen Versorgungsleitlinie Typ-2-Diabetes.
-
Archiv: NVL Diabetes mellitus Typ 2, 1. Auflage
Das Archiv enthält abgelaufene, zurückgezogene Dokumente zur Nationalen Versorgungsleitlinie Diabetes mellitus Typ 2, 1. Auflage.
Hinweise und Kommentare
Sie haben Hinweise und Kommentare zu unserem Internetangebot?