NVL Chronische Herzinsuffizienz, Version 4

11 Palliativmedizinische Versorgung (2019)

Das Sterberisiko bei fortgeschrittener Herzinsuffizienz (NYHA IV) ist höher als das bei den meisten soliden Tumorerkrankungen 11404, und mit dem Erkrankungsstadium steigt der Anteil der Patienten, die am Pumpversagen versterben und nicht am plötzlichen Herztod 12811. Die daraus resultierende Symptomlast – mit einem breiten Spektrum an physischen und psychosozialen Belastungen – ist derjenigen bei Krebserkrankungen vergleichbar. 28916 Dennoch wird nur ein Bruchteil der an Herzinsuffizienz erkrankten Patienten palliativmedizinisch versorgt. 28917 In der Folge versterben aus Sicht der Leitliniengruppe zu viele Patienten unter Notfalleinweisungsbedingungen.

Aufgrund der großen Anzahl betroffener Patienten 28334 und wegen der starken Belastungen, denen sie im Endstadium ihrer Erkrankung ausgesetzt sind, möchten die Autoren der NVL Chronische Herzinsuffizienz die Aufmerksamkeit für diese Problematik erhöhen, um die palliativmedizinische Versorgung von Patienten mit Herzinsuffizienz zu verbessern.

11.1 Definition, Strukturen und Evidenz

Die Palliativmedizin zielt darauf, die Lebensqualität von Patienten mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung und die ihrer Angehörigen zu verbessern bzw. zu erhalten. Die Lebensqualität umfasst dabei vier Dimensionen: die physische (somatische Beschwerden), die psychische (kognitive und emotionale Komponenten), soziale (zwischenmenschliche Beziehungen) und die spirituelle (existentielle Fragestellungen, Werte, religiöse Aspekte). Palliativversorgung setzt nicht erst in einer im engeren Sinne palliativen Situation ein, sondern sie umfasst auch langfristig vorausschauende Angebote und die Symptomkontrolle für Patienten, bei denen eine chronische lebensbedrohliche Erkrankung diagnostiziert wurde.

In der Versorgungspraxis unterscheidet man allgemeine und spezialisierte palliativmedizinische Angebote:

  • Allgemeine Palliativversorgung (APV): Für die APV existiert keine einheitlich akzeptierte Definition. Es handelt sich dabei um einen breit gefächerten, niederschwelligen Ansatz zur Linderung der Beschwerden von Patienten, der durch jeden Arzt, insbesondere aber durch die ambulant tätigen Primärversorger (i. d. R. Hausärzte) geleistet werden sollte.
  • Spezialisierte Palliativversorgung (SPV): Die SPV umfasst die Versorgung durch spezialisierte multidisziplinäre Teams und ist sowohl im ambulanten (Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung SAPV (§37b, §132d SGB V); Palliativambulanzen) als auch im stationären Bereich (Spezialisierte stationäre Palliativmedizin SSPV (OPS-Code 8-982, 8-98e); z. B. durch palliativmedizinische Konsildienste/Palliativdienste oder Palliativstationen) möglich.

Die Strukturen der Palliativ- und Hospizversorgung in Deutschland entwickeln sich derzeit sehr dynamisch. Wie viele Patienten mit Herzinsuffizienz (spezialisiert) palliativmedizinisch versorgt werden, ist mangels prospektiver Daten unklar. Ihre Zahl dürfte aber gering sein, da die Aufnahme in hospizliche oder palliativmedizinische Strukturen vorzugsweise über Prognosekriterien erfolgte und noch erfolgt (Lebenserwartung von Tagen, Wochen und Monaten), die Prognose bei Patienten mit Herzinsuffizienz jedoch weniger gut abgeschätzt werden kann als beispielsweise bei den meisten Patienten mit soliden Tumorerkrankungen. Auch sind die Vorteile eines frühzeitigen Einsatzes von Palliativversorgung bei dieser Patientengruppe weniger bekannt als im onkologischen Zusammenhang.

Evidenzbasis

Bei allen Empfehlungen in diesem Kapitel handelt es sich jeweils um einen Expertenkonsens; sie wurden im Wesentlichen aus der S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung 29800 extrapoliert. Nach Einschätzung der Leitliniengruppe betreffen die untersuchten Interventionen und die aus der Evidenz abgeleiteten Empfehlungen allgemeine Prinzipien der Palliativversorgung und können daher von Krebspatienten auf andere Erkrankte übertragen werden. Auf eine systematische Recherche zum Effekt palliativmedizinischer Versorgung bei Patienten mit Herzinsuffizienz wurde verzichtet, da internationale Evidenz auf die speziellen deutschen Versorgungsstrukturen nur schwer zu übertragen ist und weil prospektive Studien zu Patienten mit Herzinsuffizienz aus Deutschland nicht vorliegen. Es erfolgte eine strukturierte Suche nach aggregierter Evidenz; weitere Literatur, insbesondere zur Situation in Deutschland, wurde von den Experten selektiv eingebracht.

11.2 Vorausschauende Kommunikation und Versorgungsplanung

Empfehlungen/Statements

Empfehlungsgrad

11-1

Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz sollen frühzeitig Gespräche zu möglichen Verläufen der Krankheit und zu Krisenszenarien angeboten werden. Dabei sollen das gewünschte Vorgehen festgelegt und für den Fall der Nichteinwilligungsfähigkeit die Benennung einer bevollmächtigten Person angeregt werden.

Starke Empfehlung

Proaktive, strukturierte und prozesshafte Gespräche über die Präferenzen des Patienten dienen der gemeinsamen Entscheidungsfindung für zukünftig mögliche Szenarien. Patienten können frühzeitig – d. h. ab Diagnosestellung einer chronisch fortschreitenden Erkrankung – regeln, wie sie in möglichen Krisen- und Notfallsituationen behandelt werden möchten. Dazu zählt, Umfang und Grenzen der Behandlung im Fall erkrankungstypischer Szenarien (z. B. kardiale Dekompensation, häufige ICD-Schockabgaben) festzulegen, individuelle Vorlieben zur Versorgung in der letzten Lebensphase, des Betreuungs- und Sterbeortes sowie ggf. der Bestattung zu besprechen und einen Vorsorgebevollmächtigten oder Betreuer zu benennen. Da sich die Präferenzen im Laufe des Lebens ändern können, ist es hilfreich, die Regelungen regelmäßig oder anlassbezogen zu aktualisieren. 

Kohortenstudien bei Krebspatienten liefern Hinweise, dass Maßnahmen der vorausschauenden Versorgungsplanung (international "Advance Care Planning", ACP) dazu beitragen können, einige aus palliativmedizinischer Sicht wünschenswerte Outcomes zu verbessern: z. B. Umsetzung einer präferenzorientierten Behandlung, Verringerung aufwändiger Therapiemaßnahmen in der letzten Lebensphase, Reduzierung von Intensivbehandlungen und Notaufnahmeaufenthalten, Verlängerung des Zeitraums hospizlicher Begleitung; Umsetzung des Patientenwunsches zum Sterbeort 29800.

Nicht alle Patienten möchten frühzeitig über mögliche Lebensendsituationen sprechen, für manche können solche Gespräche belastend sein. Daher ist der Patientenwunsch bei allen Gesprächsangeboten leitend. Für selbstbestimmte Entscheidungen bezüglich der vorausschauenden Versorgungsplanung ist es notwendig, Betroffenen verständliche Informationen zur Prognose der Erkrankung wie auch Angeboten der palliativmedizinischen Versorgung zur Verfügung zu stellen. Auf ärztlicher Seite können nach Einschätzung der Leitliniengruppe u. a. mangelnde Gesprächsführungskompetenzen, Hemmungen bezüglich des Themas und Ressourcenprobleme die Umsetzung von ACP in der Praxis erschweren.

Grundsätzlich kann ACP ambulant im Rahmen der allgemeinen, hausarztorientierten Palliativversorgung (APV) vom Arzt selbst, von speziell geschulten nicht-ärztlichem Gesprächsbegleitern oder subsidiär durch spezialisierte palliativmedizinische Strukturen durchgeführt werden, im stationären Bereich durch Palliativmedizinische Konsildienste/Palliativdienste.

Da es Hinweise auf einen Nutzen vorausschauender Versorgungsplanung gibt und gleichzeitig nicht anzunehmen ist, dass Patienten durch das Angebot eines Gesprächs Schaden nehmen, spricht die Leitliniengruppe eine starke Empfehlung aus. Wichtig ist, einen eventuellen Wunsch der Patienten auf Nichtbefassung mit dem Thema Tod und Sterben zu respektieren.

11.3 Assessment von Symptomen und Belastungen

Empfehlungen/Statements

Empfehlungsgrad

11-2

Bei Patienten mit fortgeschrittener chronischer Herzinsuffizienz sollen frühzeitig und systematisch Symptome und Belastungen erfasst werden, die auf eine palliative Situation hindeuten.

Starke Empfehlung

Symptome, unter denen Patienten mit Herzinsuffizienz leiden, können durch die Erkrankung selbst (Atemnot, Fatigue, Schwäche, wiederholte Dekompensationen), durch Komorbiditäten (z. B. muskuloskelettale Schmerzen, Depressivität, Angst, Schlafstörungen) und/oder durch Nebenwirkungen der Behandlung (z. B. Polyurie, Obstipation, Übelkeit) bedingt sein. Ein frühzeitiges – d. h. nicht erst im terminalen Stadium – einsetzendes Assessment von Symptomen und Belastungen ist nach Einschätzung der Leitliniengruppe geeignet, Patienten zu identifizieren, die von palliativmedizinischen Versorgungsangeboten profitieren können.

Eine konkrete oder sich abzeichnende palliative Situation zu erkennen und in der Folge entsprechende palliativmedizinische Maßnahmen einzuleiten, ist nach Einschätzung der Leitliniengruppe primäre Aufgabe der Allgemeinen Palliativversorgung (APV). Hauptträger der APV sind die Hausärzte. Für die Identifikation von Patienten mit chronischen Erkrankungen, die von einer palliativen Versorgung profitieren können, existiert beispielsweise ein validiertes Instrument (Supportive and Palliative Care Indicators Tool SPICT 28996), dessen deutsche Version frei verfügbar ist (www.spict.org.uk/the-spict/spict-de) und bereits in Pilotprojekten in deutschen Hausarztpraxen getestet wurde 28995, 28994.

11.4 Einbezug spezialisierter palliativmedizinscher Angebote

Empfehlungen/Statements

Empfehlungsgrad

11-3

Patienten mit fortgeschrittener Herzinsuffizienz und komplexen Belastungen im physischen, psychosozialen und pflegerischen Bereich sollten Unterstützungsmaßnahmen im Rahmen der Spezialisierten Palliativversorgung angeboten werden.

Abgeschwächte Empfehlung

Für Patienten mir unheilbaren Krebserkrankungen weisen Studien darauf hin, dass frühzeitig einsetzende Unterstützungsangebote dazu beitragen, patientenrelevante Endpunkte zu verbessern: Sie erhöhen die Lebensqualität, reduzieren die Häufigkeit von Notaufnahme- und Intensivstationsaufenthalten und verbessern die Umsetzung von Behandlungs- und Versorgungspräferenzen z. B. zum Sterbeort 29800. Bei Herzinsuffizienz ist die Datenlage für einen strukturierten, frühzeitigen Einbezug palliativmedizinischer Unterstützung unzureichender. Ein Cochrane-Review 28003 bezog neben Krebs- auch Patienten mit anderen fortgeschrittenen Erkrankungen ein. Durch palliativmedizinische Interventionen verdoppelte sich die Wahrscheinlichkeit, zu Hause zu versterben (OR 2,21 (95% KI 1,31; 3,71); p = 0,003, NNT 5) und es ergaben sich positive Effekte auf die Symptomlast. Die Studienqualität wurde als gut eingeschätzt. Allerdings war nur ein sehr geringer Teil der eingeschlossenen Patienten an chronischer Herzinsuffizienz erkrankt. Von den Experten selektiv eingebrachte, nach Abschluss des Reviews publizierte RCTs für diese spezielle Patientengruppe scheinen zwar insgesamt in die gleiche Richtung zu deuten, doch war der Effekt auf Hospiznutzung oder Rehospitalisierung nicht signifikant; kontinuierliche Endpunkte (Lebensqualität, Angst, Depression) wurden nur teilweise in klinisch relevantem Umfang verbessert 28885, 28884.

Gemäß der klinischen Erfahrung der Leitliniengruppe ist bei fortgeschrittener Herzinsuffizienz die AVP für die weniger belasteten Patienten und in weniger krisenträchtigen Erkrankungsverläufen ausreichend. Bislang wurde nicht untersucht, ob, und wenn ja welche, Kriterien jene Patienten zuverlässig identifizieren, die von SPV profitieren. In der Praxis erfolgt diese Einschätzung in erster Linie prognoseorientiert (z. B. bei Eintritt in das "Terminalstadium" bzw. nach Ausschöpfen jeglicher kausaler Therapieansätze) oder auf expliziten Wunsch des Patienten. Ein systematischer NICE-Review kommt zu dem Ergebnis, dass prognostische Tools nicht geeignet sind, um bei Patienten mit Herzinsuffizienz den Zeitpunkt für den Einbezug palliativer Expertise zu bestimmen 28758. Die Leitliniengruppe befürwortet stattdessen einen bedürfnis- und symptomorientierten Einbezug spezialisierter Palliativversorgung in besonders komplexen Belastungssituationen (vgl. Tabelle 28). Denkbare Kriterien bzw. Indikationen sind beispielsweise

  • besondere Anforderungen an die Symptomkontrolle (z. B. bei refraktären Schmerzsyndromen bei speziellen parenteralen oder rückenmarksnahen Applikationstechniken oder ventilatorischer Unterstützung);
  • besondere Anforderungen an die pflegerische Versorgung (z. B. bei speziellen Wundbehandlungen);
  • eine notwendige psychosoziale Unterstützung (z. B. bei schwierigen Verarbeitungsprozessen in der Familie);
  • 24-Stunden-Erreichbarkeit bei krisenträchtigen Verläufen.

Darüber können auch existenzielle Not und Angst und zunehmende Gebrechlichkeit (Frailty; siehe Kapitel 8.10 Kardiale Kachexie, Sarkopenie, Frailty) Trigger für den Einbezug von SPV sein.

Auf Grund der unzureichenden Datenlage und der nicht eindeutig zu definierenden Patientengruppe spricht die Leitliniengruppe eine abgeschwächte Empfehlung aus.

11.5 Therapiebegrenzung in der Sterbephase

Empfehlungen/Statements

Empfehlungsgrad

11-4

In der Sterbephase sollen medizinische, pflegerische und physiotherapeutische Maßnahmen, die nicht dem Ziel bestmöglicher Lebensqualität dienen, beendet bzw. nicht eingeleitet werden.

Starke Empfehlung

Um die Sterbephase möglichst wenig durch therapiebedingte Nebenwirkungen und Belastungen zu beeinträchtigen, ist es nach Einschätzung der Leitliniengruppe wichtig, ausschließlich symptomlindernd zu behandeln. Das bedeutet, Medikamente, die nicht unmittelbar die Lebensqualität verbessern (z. B. prognoseverbessernde Medikation, Osteoporose-Medikamente) in Absprache zwischen den Behandelnden und dem Patienten und/oder Angehörigen abzusetzen. Auch Interventionen wie Beatmung, Dialyse/Hämofiltration, Intensivtherapie, künstliche Ernährung oder die Lagerung zur Dekubitus- oder Pneumonieprophylaxe sind auf Lebensverlängerung oder einen längerfristigen Nutzen angelegt und verbessern nicht unbedingt die Lebensqualität des sterbenden Patienten, sondern können sie im Gegenteil einschränken. Im Widerspruch zu diesen Überlegungen werden Sterbende nach klinischer Erfahrung der Leitliniengruppe im Versorgungsalltag teils therapeutisch und pflegerisch überversorgt. In Übereinstimmung mit den Positionen der Bundesärztekammer 28888, der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin 28886 und der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie 26766 empfiehlt die Leitliniengruppe deshalb mit höchster Empfehlungsstärke, die genannten Maßnahmen in der Sterbephase zu unterlassen, sofern dies nicht dem ausdrücklichen Wunsch des Patienten widerspricht.

Zum Abschalten implantierter Geräte (ICD, CRT, VAD) in der Sterbephase siehe Kapitel 7.10 Ethische Aspekte der apparativen Therapie sowie 26766.

Zur Diagnosestellung sowie zum Vorgehen während des eigentlichen Sterbeprozesses, zur Kommunikation sowie zur spezifischen Behandlung in der Sterbephase auftretender Symptome (Delir, Rasselatmung, Mundtrockenheit, Angst, Unruhe) siehe S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung 29800.

Zu regionalen ambulanten und stationären palliativmedizinischen Angeboten siehe Wegweiser zur Hospiz- und Palliativversorgung (www.wegweiser-hospiz-palliativmedizin.de) der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.

S3 Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung

www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/128-001OL.html

Die auf der S3-Leitlinie basierende Kurzinformation für Patienten "Medizin am Lebensende" (www.patienten-information.de/kurzinformationen/gesundheit-allgemein/medizin-am-lebensende) informiert über die Möglichkeiten vorsorglicher Regelungen und über Unterstützungsangebote in palliativen Situationen.

NVL Chronische Herzinsuffizienz, Version 4.0, 2023

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zuletzt verändert: 12.12.2023 | 09:20 Uhr